Nachbarschaft | Ich habe die Nachbarschaft kennengelernt: Es gab ein Nachbarschaftsfest. Seit meinem Umzug im Januar bin ich zwar Teil einer WhatsApp-Gruppe und auch schon einzelnen Leuten begegnet, aber es gab bislang keine Möglichkeit, sich ausführlicher bekannt zu machen.
Auf dem Fest lösten sich einige Rätsel auf, zum Beispiel das des Fahrradschuppens. Der Fahrradschuppen ist an eines der Eckhäuser angebaut, und jedesmal, wenn ich an ihm vorbeikomme, tritt eine andere Person heraus; ein Fahrradschuppen wie in der Truman Show, der Startpunkt aller Komparsen. Jetzt ist klar: Die Leute wohnen dort wirklich alle, und die Verhältnisse sind dergestalt, dass ich dem Reiseleiter, der nicht auf dem Fest war und dem ich alles nachträglich erklären musste, sowohl einen Etagenplan als auch einen Stammbaum skizzierte.
Ergebnis des Festes ist, dass ich Mitglied einer Nachbarschafts-Tippspielgruppe bin, in der ich nach dem ersten Spieltag Platz vier von zehn belege. Die ersten drei Plätze bekommen am Saisonende die uneingeschränkte Anerkennung der Gruppe und einen Pokal, der entweder sichtbar in eine Vitrine oder, noch besser, illuminiert in straßenseitige Fenster zu stellen ist. Dass die Gruppe im Wesentlichen aus ehemaligen Fußballerinnen besteht, darunter Bundesliga und Regionalliga, sowie kundigen Rentnern, macht die Sache knifflig. Ich strebe an, nicht Letzte zu werden.
Tomatensituation | Nachdem wir über mehrere Wochen täglich Gurken ernten konnten und sie sowohl uns als auch den Meerschweinen aus den Ohren rauskamen, haben wir jetzt Tomaten ohne Ende. Erstaunlicherweise haben sie kaum Braunfäule, obwohl sie im Freien stehen und es reichlich geregnet hat.
Ich habe also noch einmal Tomatensoße gekocht, große Mengen für schlechte Zeiten, habe sie eingemacht und eingefroren.
Tomatensoße herzustellen befriedigt mich sehr. Es gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Wer eimerweise Tomatensoße besitzt, ist für das Leben mit all seinen Widrigkeiten gerüstet.
Broterwerb | Ich war bei Kunden an verschiedenen Orten in NRW und habe Seminare gegeben und Workshops geleitet.
Bei Workshops ist mein oberstes Ziel, dass es konkrete Ergebnisse gibt, also: Problem –> Lösung + Aufgabenverteilung. Oder: undurchsichtige Gemengelage –> mehr Durchblick + nächste Schritte. „Schön, dass wir darüber geredet haben“ ist etwas für die Feierabendlimo; in der Arbeitszeit sollte es ein Ergebnis geben.
Workshops sind manchmal einfach, weil Problem und Lösung auf der Hand liegen und sich nur alle mal strukturiert dazu austauschen müssen, um ein gemeinsames Bild zu haben und zu klären, wer jetzt was macht. Bisweilen sind sie aber auch ziemlich intensiv und anstrengend für alle Seiten, weil es viele Baustellen gibt, viele Abhängigkeiten zwischen den Baustellen, unterschiedliche Interessen; weil nicht klar ist, wo welche Verantwortung liegt (einschließlich der eigenen) und nicht zuletzt, weil es eine Historie gibt, die zu Frust und Enttäuschung geführt hat.
In der vergangenen Woche hatte ich einen ziemlich intensiven Workshop. Aber wir sind voran gekommen, und es gibt konkrete nächste Schritte. Das ist gut. Danach war ich allerdings ziemlich platt.
Nebensätze | Nach einem Tag Seminar und zwei Tagen Workshop bin ich zu einer Tagung gefahren: der Zukunftstagung der Organisationsberatung Praxisfeld in Remscheid. Mitgestalter des Tages war Prof. Rudolf Wimmer vom Wittener Institut für Familienunternehmen. Er beschäftigt sich mit Führung und Dynamik in Familienunternehmen. Wenn es wissenschaftliche Redebeiträge gibt, ist es für mich immer ein Zeichen, dass die Veranstaltung über anekdotische Evidenz hinausgeht und sich lohnen könnte. Also meldete ich mich an.
Sowohl in Weiterbildungen als auch auf Konferenzen sind es immer die Nebensätze, die mir im Gedächtnis bleiben. Hier ein paar davon:
Macht ist nur Kommunikation, ist nur eine Ankündigung: Man nimmt an, es könnte etwas passieren.
Das nehme ich auch in meinen Seminaren zum Thema „Selbstführung“ wahr – und in Einzelberatung mit Kunden: die Tendenz, sich selbst zu blockieren, weil wir jemand Anderen/etwas Anderes als machtvoll empfinden. Beim näheren Hinschauen stellt sich dann heraus: Vieles ist durch unsere Wahrnehmung geprägt; sicher auch durch unsere Erfahrungen. Die Erfahrungen beruhen jedoch oft auf gut gepflegten Handlungsmustern. Was also, wenn wir etwas anders machen? Das, von dem wir denken, was passieren wird, ist keine Bestimmung.
Führung beschäftigt sich mit Positionen, die nicht entscheidbar sind. Wären sie es, könnte man die Lösung einfach ausrechnen.
Ich habe den Satz mitgenommen, bin aber unschlüssig. Management ist Entscheiden, aber Führung ist so viel mehr. Warum ich den Satz trotzdem notiert habe: Es geht tatsächlich viel um Positionen. Allein, indem ich als Vorbild agiere, welches Beispiel ich gebe, macht deutlich, dass es auch eine andere Seite gibt.
In familiär geprägten, patriarchalischen Organisationen ist alles informell.
Der Satz ist ein wenig aus dem Zusammenhang genommen. Er fiel in dem Kontext, dass es in Unternehmen Dinge gibt, die formell geregelt sind (Gehaltsstrukturen, Arbeitsorte und Arbeitszeiten, …) – sie sorgen für Transparenz, Gerechtigkeit, Sicherheit. Andere sind nicht formell geregelt; mit ihnen hat die Führungskraft Spielraum für ihren individuellen Führungsstil. Rudolf Wimmers Perspektive ist: Auch wenn es in kleinen Familienunternehmen formale Regeln gibt, hängt letztlich alles vom Ermessen einer oder weniger Personen ab, die jederzeit entgegen der Formalie handeln und Vorteile gewähren können und dies auch tun. Folglich sei in patriarchalen Unternehmen alles informell.
Brutalistisch | Gestern war ich zu Gast an der Ruhr-Uni, ein toller Ort für den Freundeskreis Beton.
Ich habe ja dereinst in Düsseldorf studiert, einer Universität, die ebenfalls wenig erbaulich ist, architektonisch.
Inhaltlich hing die Erbaulichkeit sehr von den handelnen Personen ab. Ich erinnere mich an Dr. R, bei dem ich sogar Seminare belegte, die ich gar nicht brauchte, weil er so unterhaltsam war. Dr. R hatte seine akademische Karriere in den 1970er und 1980er Jahren begonnen und ist in dieser Zeit offenbar allen wesentlichen Personen der deutschen Gesellschafts- und Kulturgeschichte begegnet. Seine Seminare hangelten sich von Anekdote zu Anekdötchen, von Joseph Beuys zu Rio Reiser, von Willy Brandt zu Walter Scheel, ein Medley der Zeitgeschichte, mal mit R als Protagonist, mal mit ihm als Beobachter. Zwischendurch schweiften wir zu Dantes Göttlicher Komödie ab, die der Veranstaltung ihren Titel gab; dabei gelang es R jedesmal auf wundersame Weise, einen weiten Bogen von Dante zu Fassbinder zu schlagen – oder zu Ulrike Meinhof, je nach Tagesverfassung. Einmal schrieb ich auch eine Arbeit bei ihm, über biblische Lichtsymbolik in der Divina Commedia; dabei lernte ich die Bibel als zeitgeschichtliches Werk schätzen, und R wanderte in seinen anschließenden Ausführungen von Gott zu Breschnew.
CSD | Im kleinen Haltern fand der erste Christopher Street Day der Stadtgeschichte statt. Die Münsterländer Bevölkerung versammelte sich auf dem Marktplatz, betrachtete das Geschehen und lauschte den Darbietungen. „Was sind das für große Frauen auf Stelzen?“, fragten die Kinder. – „Das sind Männer in Stöckelschuhen. Wenn die sich so bunt anziehen, nennt man sie Drag Queen.“ – „Warum machen die das?“ – „Weil es ihnen gefällt.“ Freundliche Kenntnisnahme; wenn es so einfach ist, ist es auch direkt wieder uninteressant.
Eine Parade gab es nicht, aber Musik, Stände, Klebe-Tattoos und Lollis. Was will man mehr.
Marmeladensituation | Ich habe den Marmeladenvorrat stabilisiert: Vatta hat auf dem Dortmunder Hauptfriedhof Brombeeren gepflückt und sie im Eimer nach Haltern gefahren. Wir werden gut über den Winter kommen.
Geguckt | Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann von Regina Schilling. Die Regisseurin leuchtet die Historie von „Aktenzeichen XY“ aus und arbeitet heraus, wie die Sendung gesellschaftliche Wahrnehmung formte, besonders in Hinblick auf Beruf und Familie und das Verhalten von Frauen und Homosexuellen.
Gelesen | Frau Novemberregen ist zufrieden mit der Störungsbehebung ihres Internetanbieters. Das ist doch auch mal schön. Diese kleinen Glanzlichter des Alltags mag ich sehr gern. Hier im Dorf macht es zum Beispiel Freude, in den Supermarkt zu gehen. Sowohl im roten als auch im gelb-blauen Supermarkt sind die Mitarbeiter:innen sehr freundlich – herzlich, plauderig, aber nicht zu viel. Das haben sie gut raus. Auch an der kleinen Poststation ist es immer gut: Man kommt schnell dran, und alle sind nett. Die E-Rezept-Sache bei meiner neuen Hausärztin klappt auch super: Ich schrieb eine Chatnachricht über die App, bekam eine nette Antwort und keine drei Stunden später hatte ich das E-Rezept dort. Fantastisch.
Gehört | You are f*cked – Deutschlands erste Cyberkatastrophe, ein Podcast des MDR. Die Hör-Serie arbeitet einen Hackerangriff auf den Landkreis Anhalt-Bitterfeld auf und zeigt, die verwundbar Kommunen in Deutschland sind. Von Juli 2021 bis zum Januar 2022 war der Landkreis quasi handlungsunfähig: Straßenverkehrsamt, Ausländerbehörde, Auszahlung von Sozialhilfe – alles war beeinträchtigt. Der Angriff macht auch deutlich, wie nachteilig ein Föderalismus ist, in dem jede Kommune selbst für ihre IT-Sicherheit verantwortlich ist.
Schwein des Tages | Die Schweine haben jetzt einen Weidentunnel, und es scheint keinen schöneren Ort zu geben.
Wir gedenken an dieser Stelle dem Schriesheimer Schwein Meghan, das nach kurzer, schwerer Krankheit in hohem Alter verstarb. Lucien und Meghan haben wesentlichen Anteil daran, dass in meinem Garten Meerschweine leben.
Kommentare
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Das mit der Tomatensauce muss ich als absoluter Nudelfan mal ausprobieren. Und die Ruhr-Uni sieht hässlich aus.
Es gibt Stimmen, die auffordern, das Schöne im Hässlichen zu sehen. Ich gehöre nicht dazu.
Gibt es da nur in meiner Wahrnehmung ein dramaturgisches Gefälle bei den Marmeladenetiketten zwischen „Brombeeren vom Dortmunder Hauptfriedhof 2023“ zu einfach „Erdbeeren 2023“?
Das ist richtig. Dabei haben die Erdbeeren durchaus eine Dramaturgie. Sie sind vom Halterner Wochenmarkt, was vor dem inneren Auge nicht ganz so gute Bilder provoziert wie der Hauptfriedhof, aber immerhin eine Biografie darstellt.
Mein eMail-Versuch erzeugte einen „mailer daemon“.
Dann also auf diesem Wege mein Korrekturvorschlag:
Nicht Förderalismus, sondern Föderalismus.
Ich habe Ihren neuen Blogbeitrag – wie alle anderen davor – sehr gern gelesen. Danke!
Danke fürs Kompliment!
Das R habe ich aus dem Förderalismus hinaus geleitet. Es war verzweifelt, weil es ein sehr pflichtbewusstes R ist, das nicht einfach funktionslos zwischen einem Ö und einem D herumlümmeln wollte.
Oh, ein Tippspiel! Mein erklärtes Ziel wäre, unter gar keinen Umständen einen Pokal zu erhalten. :)
Hehe. Ach, so ein Pokal neben der Haustür wäre mir schon eine Freude. Er ist oben auch uneben. Man könnte gut die Schlüssel dranhängen.
Wenn ich bei Fußball-Großereignissen zum Tippspiel genötigt werde („wir brauchen uuuunbedingt noch Leute!“) würfle ich grundsätzlich alle Ergebnisse aus und teile das auch lautstark mit. Dann werden alle, die das ernsthaft betreiben, leicht panisch, weil sie ja besser als die Würfeltipps sein müssen. Macht sehr viel Spaß, vor allem, wenn wirklich mal Spanien gegen die Färöer-Inseln verliert und es niemand getippt hatte!
In familiär geprägten, patriarchalischen Organisationen ist alles informell.
Der Satz stimmt auch für quasi-familiär geprägten Organisationen (Vereine, kirchliche Institutionen …). Sie sind am Habitus „wir sitzen alle in einem Boot“ erkennbar.
Das ist diesmal aber ein besonders bezauberndes Schweinebild :)
Wenn schon ein Schwein sein in dieser Welt, dann bitte bei Frau Nessy