Erkenntnis I | Ich habe ein Vorbild, was schlechte Laune angeht: Es ist Frau Direktorin Novemberregen. Frau Novemberregen kann intensiv übellaunig und dabei ungemein unterhaltsam sein, unterhaltsamer als achtundneunzig Prozent aller Comedians. Ihre Miesepetrigkeit ist rein, unverdorben und von großer Wahrhaftigkeit. Ihr wohnt eine erfreuliche Klarheit ebenso wie ein weltumspannende Undifferenziertheit inne. Das macht sie vollkommen.
Man kennt mich als Menschen mit sonnigem Gemüt. In den vergangenen Tagen hingegen hatte ich für meine Verhältnisse sehr schlechte Laune. Schlechter geht nur, wenn mir dazu auch noch Kekse fehlen. Leider war ich dabei nicht annähernd so unterhaltsam wie Frau Direktorin.
Meine schlechte Laune hatte ihre Ursache in einem Zuviel an Videokonferenzen, zwei Grad und Regen, der erzürnenden Pandemiepolitik, dem Kommunikationsverhalten von Dachdeckern, diversen verlorenen Partien in verzweifelt als Lockdownunterhaltung herangezogenen Gesellschaftsspielen, der Servicementalität von Sanitärtechnikern, meiner persönlichen Impfperspektive, der gesamtdeutschen Impfperspektive, Ballermann-Touristen, einer unfassbar schlechten Beratung in einem Fahrradgeschäft (de facto Beratungsverweigerung), meiner wetter-, arbeits- und lethargiebedingt erbarmungswürdigen körperlichen Verfassung, dem exakt prognostizierten und in dieser Vorhersage ebenso ignorierten Anrollen der dritten Welle, der damit verbundenen fehlenden Perspektive auf Freibadöffnung, sensibler Mischhaut und der Tatsache, dass sich, seit ich 24/7 zuhause bin, ständig und überall bizarre Mengen an Staub und Krümeln ansammeln.
Das alles sind eigentlich unzureichende Gründe für Übellaunigkeit, ich weiß. Es geht mir gut, ich habe tolle Menschen um mich. Ich habe Einkommen und Kunden, die gute Laune machen. Tatsächlich besserte sich meine Laune am Montagmorgen beträchtlich, als ich mich in die täglichen Morgenrunde mit meinem Kunden einwählte, die Menschen dort sah und sie sprechen hörte. In dem Moment war ich über mich selbst überrascht, und es kam mir die Erkenntnis: Auch wenn ich gerne für mich bin, wochenlang alleine durch die Lande reisen kann und mich oft sozial verkatert fühle, bin ich im Herzen doch ein Mensch, der eine Gruppe braucht.
Erkenntnis II | Ich stieß auf Hanlon’s Razor, ein Sprichwort, das alles erklärt. Es lautet:
Schreibe nicht der Böswilligkeit zu, was durch Dummheit hinreichend erklärbar ist.
Nach zwölfmonatiger Beobachtung von Entscheidungen und Wortbeiträgen politisch Handelnder – unter besonderer Berücksichtigung von Landespolitiker:innen – bin ich zu dem Schluss gekommen: ja. Es kann nicht anders sein. Sie erfassen es intellektuell nicht. Nicht die Modellierungen, nicht die virologischen Grundlagen, nicht die epidemologischen Abhängigkeiten und erst recht nicht die Undiskutierbarkeit naturwissenschaftlicher Gesetze, die anmaßend schonungslos jedes Umdeuten und Abwiegeln untergräbt.
Es ist Einfalt, eine andere Erklärung kann es nicht geben. Für eine uns alle überrumpelnde, perfide Schlauheit warten wir einfach schon zu lange auf die Pointe, die Auflösung, den Wendepunkt der Story.
Nur: Was sagt es über uns, unser demokratisches System, die Beschaffenheit und die Zukunft unserer Gesellschaft, wenn dies zutrifft?
Ausgesiebt wird, was fehlerhaft oder nicht gut genug ist; das Übrige ist vorläufig richtig. Schon am nächsten Tag kann es falsch sein. Und das ist die kühle Schönheit und zwingende Sinnhaftigkeit wissenschaftlichen Denkens, maximal entfernt von all dem entsicherten Meinen, grundlosen Schreien und Beleidigtsein, das die Welt erfüllt. […]
Der Laie verliert schon mal den Faden, wenn Drosten in die Tiefen der Statistik oder des Immunsystems abtaucht. Aber es gibt unschätzbar viel zu lernen. Man wusste zwar, wie viel man nicht weiss, beginnt nun aber zu ahnen, wie gigantisch die Galaxien sind, die andere bereisen, weil sie dort forschen.
Eine Form geistiger Rettung
Kommentare
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Ich denke, daß Dummheit einen großen Teil dessen hervorbringt, was wir momentan erleben. Nicht unbedeutend erscheint mir jedoch, daß Wahljahr ist und verschiedene politische Akteure ihre Klientel bedienen wollen und dafür gewisse Risiken billigend in Kauf nehmen.
Ist das nicht auch Dummheit und Kleingeistigkeit? Zu glauben, Klientelpolitik helfe in einer Pandemie?
: Kommunikationsverhalten von Dachdeckern
Ich überlege noch, ob ich das groß und erschrocken guckende Emoji oder das „ach Fuck“-Emoji kommentieren soll.
Didn’t work, did it?
Ich habe noch Hoffnung.
Ich bin – aus Gründen – versucht zu sagen: Grüß ihn von mir. Aber nee.
Wäre er wie vereinbart gekommen, hätte ich ihn bereits gegrüßt.
Zum Thema „Dummheit statt Böswilligkeit“: Mich erschreckt dabei schon lange, wie manche Politik-Menschen anscheinend regelrecht stolz sind oder damit kokettieren, etwas nicht zu verstehen (z.B. Laschet schon voriges Jahr „Hach, dieser komplizierte R-Wert – wer soll den denn verstehen …?“).
Wie passt das damit zusammen, dass sie in Anspruch nehmen, für ihre Aufgabe (und vielleicht weitere Karriere) kompetent zu sein? Ist es Anbiederei?
Ja, viele Details sind kompliziert, klar. Aber das Basiswissen ist für normal intelligente Menschen aber doch nicht soooo schwer zu verstehen, egal ob vom Fach oder nicht!
„Nur: Was sagt es über uns, unser demokratisches System, die Beschaffenheit und die Zukunft unserer Gesellschaft, wenn dies zutrifft?“
Leider haben wir uns schon lange davon verabschiedet, Wissen bzw. Experten anzuerkennen. Im letzten Jahr hat sich das noch verstärkt. Die Experten werden verhöhnt, beschimpft, bedroht, usw.
Wir sollten uns das nicht länger bieten lassen.
Ich bin momentan sehr deprimiert ob der sich ständig ausbreitenden Dummheit. Trotzdem LG in den Pott von Ulrike.