Am Mittag bin ich ins Dorf gefahren: schauen, ob der Buchladen ein bestimmtes Buch hat, und einige Kleinigkeiten einkaufen. In der Kasse vor mir waren viele Menschen; es war Freitag, es war Mittag, am Freitagmittag ist das so im Rewe am Stadtteilbahnhof – dort trifft sich das Einkaufsvolk.
Die Menschen, fiel mir auf, während vor mir an der Kasse alle Unwägbarkeiten passierten, die passieren können: Storno, Bonrolle leer, „warten Sie, ich hab’s passend“, Treuepunkte verschwunden, Joghurtbecher kaputt und Payback-Karte nicht lesbar; während also all das geschah und ich in der Schlange stand, fiel mir auf, wie viele Menschen gebeugt durch die Welten gehen, nicht nur im orthopädischen Sinne: junge Menschen mit eingefallenen Oberkörpern, ohne Kraft und Körperspannung. Ich möchte ihnen dann gerne meine Zeige- und Mittelfinger links und rechts neben die Wirbelsäule drücken, vorsichtig natürlich, ganz sanft – genau in Höhe der Schulterblätter; je ein Finger zwischen Schulterblatt und Wirbelsäule, nur eine leichte Berührung. Ich möchte sagen: „Versuch mal, zieh sie mal zueinander, die Schulterblätter, Schultern zurück und ein bisschen anspannen, genau hier, wo du mich fühlst – ja, sehr gut.“ Dann möchte ich sagen: „Jetzt das Becken kippen, nach vorne kippen, genau – den Po etwas anspannen, den Bauch auch und dann das Becken zur dir hin, nach oben in Richtung Brust. Und nun atme in den kleinen Punkt unterhalb des Bauchnabels; den gibt es nicht, den musst du dir denken. Versuch es mal. Einmal, zweimal, zwölfmal, wie fühlt sich das an?“
Natürlich mache ich das nicht, sondern ich stehe da und warte und stapele meine Waren aufs Band und überlege, ob ich noch eine Packung von den Zitronenmelisse-Bonbons mitnehmen soll, ich ziehe meine Schulterblätter zueinander, atme in den Punkt unter meinen Bauchnabel, neinkeinepaybackkartedanke, bezahle und gehe.
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Heute sagte mir jemand: „Wenn man dich so liest, könnte man glauben, Du hast nie Stillstand.“
Darüber habe ich länger nachgedacht, denn tatsächlich hatte ich in den vergangenen 20 Jahren keinen Stillstand – das hat der Jemand richtig beobachtet. Immer veränderte sich etwas, immer ging es nach vorne; kaum stellte sich Routine ein, kam der Jobwechsel, meist von mir selbst; ich hätte auch bleiben können, doch es gab keine Herausforderungen und keine Perspektive, die eine Entwicklung zuließen. Also fort. Privat auch eine schwungvolle Fahrt: mal ein Finden ohne zu suchen, dann ein Suchen ohne zu finden, in anderen Fällen ein immerwährendes, immer wieder überraschendes Finden – oder vielleicht auch ein Suchen, so genau dann man das nicht sagen. Begegnungen mit großen und kleinen Gefühlen, großen langen und kleinen kurzen und großen kurzen und kleinen langen.
Dabei, und das ist eindeutig, das kann jeder sehen, bin ich überhaupt kein rastloser Mensch, nicht im körperlichen Sinne. Ich sitze gerne, ganz loriotesk; ich brauche dazu nichts, nicht einmal ein Buch, ich kann einfach nur sitzen und denken und gucken und zufrieden sein.
Ich tue auch im aktiven Sinne ganz gerne mal nichts. Jetzt fragen Sie sich vielleicht, was das ist: aktiv nichts tun. Ich erkläre es Ihnen am Beispiel der Gartenarbeit.
Vieles im Garten dient einem höheren Sinn und eindeutigen Zweck: wässern, mähen, säen – das muss sein, sonst wird alles welk oder existiert gar nicht erst. Manche Arbeit im Garten entzieht sich allerdings jeder Funktion; es ist keine Arbeit im eigentlichen Sinne, es ist eher Kontemplation. Dann sitzen Sie da und denken sich: Ich könnte mal nach den Radieschen schauen. Dann gehen Sie zum Beet, schauen nach den Blättern, die dort stehen, häufeln ein bisschen Erde von links nach rechts, harken eine Weile vor sich hin, und dann setzen Sie sich wieder. Die Radieschen – die brauchen das nicht, die wachsen auch ohne Ihr Nachgucken; dennoch fühlt es sich richtig an. Danach schauen Sie nach den Tomaten, schneiden vielleicht ein paar Triebe heraus – nötig wäre das nicht. Andererseits: Warum nicht? Wäre ich eine Tomate, würde ich das vielleicht wollen; man kann ja mal testen, ob es ihr gefällt. Im Anschluss denken Sie sich: Bauernblumen, davon könnte es ein paar mehr geben. Es ist erst Juni, da ist es noch nicht zu spät, da kann man noch einsäen, das wird bestimmt sehr schön. Dann nehmen Sie sich einen Sack Erde und einen Topf und schaufeln die Erde hinein und säen die Blumen ein, gießen sie und suchen ein schönes Plätzchen für sie aus. Nach den Blumen müssen Sie im Anschluss dann immer wieder mal sehen, am besten zweimal am Tag; kann sein, dass Sie sonst ein wichtiges Ereignis im Leben der Blumen verpassen, das wäre ja schade. So können Sie einen ganzen Tag verbringen und auch mehr: indem Sie aktiv nichts tun, während sich um Sie herum die Welt rasant dreht.
Vielleicht ist es genau das, was mein Leben so konstant hält: dass sich das Außen sehr schnell bewegt – der Beruf, das Private, die Reisen, die Erlebnisse. Dass ich innen aber einfach nur sitze und zufrieden bin, dass ich nicht mit den Armen wedele, nicht abrupt aufstehe, nicht fortlaufe und nicht herumzappele. Denn sonst würde ich herausfallen aus der Welt.
Kommentare
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Du BIST eine von den Guten. Ganz klar. Schön, dass es Dich gibt in meiner Welt.
Danke.
Toll geschrieben. Ich bin das Gegenteil. Ich wedele und springe plötzlich auf, still sitzen geht nur, wenn der Kopf beschäftigt wird. Dafür brauche ich mehr Ruhe im Außenleben – um nicht beim Zappeln herauszufallen aus der Welt. Schöne Betrachtungsweise!
Jeder, wie er’s braucht, ne.
Schoene Selbstbeobachtung und grosses Fazit. Ich wuerde vielleicht sogar annehmen, dass das eine das andere ermoeglicht. Wenn Sie auch inwendig mehr springen wuerde, dann wuerden Sie Dinge im Aussen anders sehen und dort wuerde sich im Zweifel das eine oder andere nicht ergeben. Und andererseits haben Sie gleich die Freiheit mal inwendig nervoes herumzuspringen und mehr vom aussen liegen zu lassen. Schon ein guter Zustand.
Das ist ein guter Gedanke … – ja, stimmt. Wenn ich inwendig herumspringe, halte ich immer das Außen ein bisschen an. Wie bei diesen Drehkarrussels auf dem Spielplatz.
Den letzten Absatz, Frau Nessy, den habe ich mir kopiert. Er wird vielleicht nicht an die Wand gehängt, aber bestimmt immer mal wieder gelesen, weil er so schön ist. Danke.
//*knickst