Ein Tag in Nebel und Dauerregen.
Es gibt etwas, das ich schon vor dieser Reise gut konnte: die Dinge auf mich zukommen lassen und das Beste daraus machen. Und doch gibt es dabei immer noch etwas zu lernen. Zum Beispiel heute, an einem Tag, der mich lehrt, dass man sich noch so viel vornehmen kann – wenn es dauerregnet, sind die Pläne alle für den Eimer.
Statt also nach Orvieto oder Viterbo zu fahren, statt auf der anderen Seite des Sees etruskische Wege und Tuffsteinstädte zu erkunden, statt ins Tal zu wandern und ein Eis zu essen, blieb ich auf meinem Felsen. Ich habe also nicht viel erlebt und eigentlich auch nicht viel zu berichten. Trotzdem möchte ich Ihnen erzählen von dem, was so wenig passiert ist.
Als Erstes suchte ich heute die Touristeninformation auf, denn sie ist gleich bei mir um die Ecke auf der Piazza Vittorio Emmanuele, dem Platz, der das Herz der Stadt ist, und der Platz, auf den man immer auf wundersame Weise zurückkommt, wenn man durch die Straßen wandert.
Hinter einer Theke saß eine kleine, in eine Winterjacke gewickelte Frau, die sofort aufsprang, als ich die Tür öffnete.
„Hallo! Schön, dass Sie das sind! Sie möchten Montefiascone entdecken!“, sagte sie. Es war kein Fragezeichen hinter dem letzten Satz, und es wäre auch nicht möglich gewesen zu widersprechen, denn mit einer schwungvollen Geste holte sie einen kopierten Plan der Stadt hervor, begann, mit dem Kuli darauf herumzumalen und erzählte mir, was ich schon wusste.
„Waren Sie schon oben auf dem Felsen? Sie können die Papstresidenz besichtigen“, sagte sie.
„Hat sie nicht montags zu?“, fragte ich. Montags hat vieles in Italien geschlossen. Außerdem stand es auf dem Schild am Tor der Burg.
„Schon. Aber manchmal auch nicht. Heute zum Beispiel. Also, glaube ich. Warten Sie. Ich rufe mal an.“
Doch von den Päpsten ging niemand ran. Sie gab mir noch eine Karte mit Wanderwegen mit, und ich fragte sie, ob sie mir auch etwas über Orvieto sagen könne, das ganz in der Nähe ist. Man kann praktisch rüberspucken.
„Nein, also, Orvieto, das ist Umbrien, wir sind hier in Lazio. Über Umbrien kann ich Ihnen nichts sagen.“
Das ist ja wie im Ruhrgebiet, dachte ich. Jeder macht Seins.
Bevor ich nachsah, ob bei der Papstresidenz nicht doch jemand zu Hause war, ging ich einkaufen. Mir gelingt es so langsam, mich dem italienischen Tagesrhythmus anzupassen, zwischen 13 und 16 Uhr also weitgehend passiv zu sein oder zumindest keine Erledigung machen zu wollen. Das vereinfacht das Leben erheblich. Denn ich konnte den kleinen Laden in der Altstadt nutzen, ein Tante-Emma-Laden in einem dieser historischen Häuser mit den dicken Mauern – und wie sich herausstellte: eine Wundertüte.
Auf geschätzten achtzig, dem Fels abgerungenen Quadratmetern gibt es alles, und wenn ich „alles“ sage, meine ich: alles. Obst, Joghurt und Backwaren, eine Käse- und eine Wursttheke, Shampoo, Waschmittel, Strumpfhosen, Sicherheitsnadeln, Blumensamen, Notizhefte, die guten Fischer-Dübel, Gummistiefel, Eimer, Töpfe, WD 40, eine Sammlung Alkoholika, Zwirne und Garne, Unterhosen, ein Regal mit bestimmt 20 Sorten Kaffee, Schnürsenkel, SD-Karten, Teppichmesser, Schaufeln, Schuhcreme, Klopapier, Tierfutter, Spielzeugautos und noch ungefähr 700 Produkte mehr. Die Bude ist vollgestopft bis unters Dach.
Ich kaufte, was ich brauchte, außerdem ein Zwei-Meter-Lighting-USB-Kabel, brachte alles nach Hause und ging zur Papstresidenz, um nachzusehen, ob sie nicht doch geöffnet hat, obwohl Montag war.
Tatsächlich: In einem in den Fels gehauenen Kämmerchen neben dem Eingangstor saßen zwei Männer, einer mit einem Glasauge, einer ohne. Der ohne sprang sofort auf, als ich mich näherte, nahm eine soldatische Haltung an und sagte: „Ein biglietto, ja? Studentin!“
„Adulti“, sagte ich, Erwachsene. Denn ich wollte die Kommune, wenn um diese Jahreszeit schon ein Tourist da war, nicht um zwei Euro bringen.
Der mit dem Glasauge riss ein Ticket von seinem Block ab, gab es mir und sagte: „Für alles. Du kannst auf den Turm und ins Architekturmuseum und dir alles in Ruhe angucken. Lass dir Zeit, wir sind hier.“
Es regnete noch immer in Strömen. Ich stieg auf die Turmruine der Residenz. „Nur sechs Leute auf einmal“, steht unten auf einem Schild, und als ich oben, in luftiger Höhe auf der Plattform stand, wusste ich, warum es nicht gut ist, hier zu Siebt zu stehen und sich zu drängeln.
Die Papstburg ist mehr als 1000 Jahre alt, der Turm liegt 600 Metern über dem Meeresspiegel und man kann jeden heranreitenden Feind auf zwanzig Kilometer sehen – wenn es nicht gerade regnet oder neblig ist. Im Hauptgebäude fanden Empfänge und Gelage statt; dort wohnten Päpste und Bischöfe. Es gibt eine Zisterne, die tief in den Fels geht.
Im Museo dell’Architettura di Antonio di Sangallo erklären sie, wie selbsttragende und nicht selbsttragende Kuppeln gebaut werden, und es ist auch sonst ganz interessant.
„Ich bin dann jetzt weg“, rief ich beim Rausgehen den beiden Männern zu, und sie winkten mir hinterher.
Ich ging durch die Gassen zum Dom Santa Margherita mit seiner großen Kuppel. Es soll angeblich die drittgrößte Kuppel Italiens sein. Ich habe dafür keine Belege gefunden. Aber sie ist auf jeden Fall groß.
„Gehen Sie auch in die Krypta“, hatte die Frau in der Touristeninformation gesagt.
Eine Krypta ist ja immer unten, also suchte ich in der Kirche eine Treppe, die hinabführte. Ich ging einmal im Kreis die Wände entlang. Es gab aber keine Treppe und auch keine Tür, die zu einer Treppe führen könnte. Mich beschlich der Verdacht, dass es einen Geheimgang gebe, einen, der sich öffnete, wenn man einen Stein in der Wand drückt. Hier ist alles möglich.
Ich sah allerdings nichts, ging hinaus, stieg am Gebäude hinab und fand: die Krypta. Logisch, wo hier doch alles in den Fels gebaut ist, ist auch das untere Teil der Kirche am Berg gebaut. Ich hob den Riegel der schweren Tür an, öffnete sie vorsichtig und sah das:
Das Licht war schummrig, draußen heulte der Wind ums Gebäude. Mit einem Schlag fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Mamma mia, was hab’ ich mich erschreckt!
Ich ging auf das Ding in der Mitte zu, beugte mich hinunter, sah hinein und – Heiliger Bimmbamm!
Eine Leiche.
Die Tür klapperte. Kerzenlicht flackerte. Ein Luftzug im Nacken.
Das. War. Gruselig.
Ich machte mich vom Acker.
Draußen traf ich auf etwas, das mir half, mich von meinem Grusel zu erholen: das Keksparadies von Montefiascone. Eine Bäckerei, deren Tradition bis ins Jahr 1925 zurückgeht, mit einem Laden voller Plätzchen. Kekse mit Vanille und mit Schokolade, mit Mandarinengeschmack und mit Rosinen, Kekse aus Wein, kleine Kekse und große Kekse. Ich kaufte einen Rucksack voll ein.
Endlich kam auch mal der Regenschutz für meinen Rucksack zum Einsatz. Damit bloß die Kekse trocken bleiben! Wenn die Daheimgebliebenen Glück haben, bleibt etwas übrig.
Ich ging noch ein Stück die Straße hinunter zu San Flaviano. Spätgotische Hauptfassade, es gibt eine Oberkirche und eine Unterkirche, das heißt: Man geht rein, und steht in der Kirche. Dann geht man eine Treppe hinauf und steht in einer weiteren Kirche. Alles aus dem 11. Jahrhundert, genauer aus dem Jahr 1032. Also wirklich alt. Sieht auch so aus.
*
Vor dem Stadttor, dem Tor zur Altstadt, gibt es einen Platz, einen sehr kleinen. Auf ihm trifft sich der Verkehr, der den Berg herauf aus den Nachbardörfern im Westen, Osten und Süden kommt, und der Verkehr, der aus der Altstadt von Montefiascone herunter kommt. Es gibt also vier Zufahrten, eine aus jeder Himmelsrichtung, und sage und schreibe sechs Abfahrten, nämlich die vier Zufahrten plus zwei Sträßchen, die neben dem Stadttor abgehen. Manchmal werden auch die beiden Abfahrten zu Zufahrten, denn sie sind zwar Einbahnstraßen, aber was solls. Dann hat dieser winzige Platz sechs Zu- und Abfahrten.
Der Platz ist so klein, dass es keinen Kreisverkehr gibt. Es gibt auch keine Ampel oder sonst etwas, das den Verkehr regelt. Mittags um Eins, wenn alle nach Hause wollen, ist vor dem Stadttor Verstopfung. Die Leute kommen aus allen sechs Straßen auf den Platz gefahren und treffen sich in der Mitte. Erst, wenn jeder sein Auto ein Stück zurechtgeruckelt hat, einmal vor und zur Seite gefahren ist, kann eines der Auto irgendwo abiegen, und der Stopfen löst sich auf, als hätte jemand Abflussfrei reingekippt.
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Daheim recherchierte ich, wer die Leiche ist: Es ist Santa Lucia Filippini, also die Heilige Lucia, und es sind wirklich ihre unverwesten Gebeine. Die Eckdaten: geboren 1672, gestorben 1732 an Brustkrebs. Sie gründete einen Orden und mehrere Schulen.
Den Rest des Tages verbringe ich damit, mich mit meiner Weiterbildung zu befassen. Ich sitze vor dem Ofen, lese über die Psychologie der Konflikte und über Grundlagen mediativer Verfahren.
*
Inzwischen weiß ich, wie es nach dem Aufenthalt in Montefiascone weitergeht. Am Samstag werde ich auf die andere Seite des Stiefels wechseln – in einen Ort in den Abruzzen, von dem aus ich zum Meer und in die Berge fahren kann. Er heißt Capelle Sul Tavo, hat 4.000 Einwohner und liegt in der Nähe von Pescara.
Dafür, dass ich heute eigentlich nichts erlebt habe, habe ich ganz schön viel aufgeschrieben.
Kommentare
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Ganz herzlichen Dank für all das Nichts! MIT Keksen. Und zauberhafter Romanik. Die Faszination von Weltreligionen mit Leichen ist wirklich bemerkenswert.
Knochen – das war mir ja bekannt. Aber dass dort eine ganze, noch dazu recht gut erhaltene Leiche liegt … das war, nun ja, überraschend.
Also, wenn bei mir „wenig passiert“, dann passiert, nun, weniger.
Es geht auch noch weniger. Du wirst es noch sehen.
Ach, Werteste! Mit welchem Genuss lese ich die Reiseberichte.!Es ist als wäre ich dabei. Danke!
Das freut mich! Ich danke auch!
Mir läuft gerade das Wasser im Mund zusammen, nicht wegen der Heiligen im Gruselambiente (obwohl sie wahrscheinlich nichts dafür konnte), sondern der Kekse wegen.
Vermutlich gibt es viele solcher Geschäfte irgendwo, der Kindheitstraum meiner Schwiegermutter befindet sich in einem kleinen piemontesischen Städtchen mit Garessini, die auf der Zunge zergehen. Man kann sie in großen Mengen vorsichtig exportieren, allerdings werden sie nach kurzer Zeit hart und zäh, sodass man sie schnell verzehren (und verehren) muss …
Außerdem haben Sie auch für meine Weiterbildung gesorgt: Ich habe eben im Heiligenlexikon gelernt, dass „Ihre“ Lucia nicht diejenige ist, derentwegen man im Dezember mit Lichterkranz durchs Dunkel schreitet (und die leckeren Lussekatter verspeist; dieses Rezept verdanke ich der Kaltmamsell, so schließt sich ein kleiner Kreis), sondern eine andere Italienerin aus Syrakus, mit grauslichem Martyrium.
#bildungsblog
#genussblog
Ich bin immer wieder begeistert von der Qualität der Bilder. Was ist das für eine Kamera, wenn ich fragen darf?
iPhone 6.
Wie kommst Du nur auf diese tollen Unterkünfte in diesen pittoresken Örtchen?? Ich bin schwer begeistert.
Allerdings fällt mir folgendes auf: letzte Woche ein Dessous-Laden im Ort – nächste Woche ein Brautmodengeschäft?! Was will mir das sagen ;-)
Ich freue mich schon auf weitere Tage süßen Nichtstuns und die Berichte dazu – viel Spaß dabei!
Die ersten beiden Unterkünfte habe ich über homeaway.it gebucht – das ist die italienische Variante von Fewo-direkt.
Sonnelino – was für ein hübsches Wort. Und so passend. Das merke ich mir, danke dafür.
Sie finden ja auch gleich das Beste am langen Ferien machen: man macht zwar ’nichts‘ – aber meist heisst das ja nur, das nix geplant ist und man sich einfach mal treiben lassen kann. Der Tag muss ja nicht vorbereitet werden, weil es noch genuegend weitere freie hat.
Eindruecklich finde ich aber im Moment vor allem auch die geschichtliche Perspektive. Wie lange dort schon Menschen sind und Ihre Strukturen hinterlassen. Hier bin ich gerade eher mit Amerika beschaeftigt, und die Tiefe die Sie hier zeigen fehlt mir dort doch irgendwie.
Ja, das finde ich auch. Alles um Rom herum gab’s schon vor Christus. Und alles andere, auf das ich in Italien bislang getroffen bin, war entweder frühes Mittelalter – oder spätestens 12./13. Jahrhundert.