Dieses Jahr gibt es eine Schaltsekunde. Der 30. Juni wird eine Sekunde länger sein. Im Zusammenhang mit diesem Thema habe ich gelesen, dass es ein Zentralbüro für Erdrotation gibt – oder, für Anglisten: International Earth Rotation and Reference Service (IERS).
Seither male ich mir aus, wie es angesichts der aktuellen Herausforderungen im Zentralbüro für Erdrotation zugeht.
#
Es ist stets die achte Stunde des siderischen Tages, wenn Professorin Olga Mega ins Büro kommt, sich erstmal einen Kaffee macht und ihre extragalaktischen Radioquellen einschaltet. Sie mag diese Zeit am Morgen, wenn noch keiner anruft, sie in der P.M. blättert und langsam in den Tag kommt.
Bald trudelt Euler an. Er wirkt gehetzt und entschuldigt sich: Die gravitativen Kräfte seines Bettes seien heute wieder zu stark gewesen; überdies gehe sein Vektor nach.
Olga sieht ihn an: Auch sein Kamm scheint kaputt zu sein. Doch sie winkt ab. Es gab bislang noch keinen Tag, an dem ihr Assistent pünktlich im Sinne konventioneller Messgrößen war.
Euler legt eine Butterstulle in den Kühlschrank und verschwindet direkt ins Labor zu seiner Kreiselsammlung. Er ist nicht grad ein kommunikativer Typ – grundsätzlich nicht und schon gar nicht morgens. Überdies hat er in letzter Zeit einige Rückschläge hinnehmen müssen; die Lorentzkraft der Liebe will in seinem Leben nicht so recht wirken. Mit jedem Korb, den er bekommt, wird er kauziger und schweigsamer.
Olga sieht auf die Uhr. Es ist Zeit, Nordkorea anzurufen und es von der Notwendigkeit einer Schaltsekunde zu überzeugen. Eine Sekunde mehr Macht! Der Traum jedes Diktators! Das Gespräch wird schnell vorbei sein.
Sie stellt die Radiowellen ab und wählt die Nummer, die sie vom Auswärtigen Amt bekommen hat. Nach dreimal klingeln wird abgehoben.
„Jong-un.“
„Mega hier vom Zentralbüro für Erdrotation.“
„Genossin Mega. Wenn hier einer zentral ist, dann bin ich das.“
„Natürlich, natürlich. Weshalb ich anrufe. Es geht um die Schaltsekunde.“
„Über die habe ich bereits nachgedacht.“
„Und?“
„Nein.“
„Sie wollen die Schaltsekunde nicht einführen? Das ist schlecht für die Weltzeit.“
„Als ewiger Führer bin ich zeitlos.“
„Nun, aber die Sonne …“
„Die bin ich.“
„Wie meinen?“
„Sie haben schon richtig verstanden. Schönen Tag noch, Genossin.“
Das hatte sie sich anders vorgestellt. Sie geht zu Euler, der gerade kopfüber in einem großen, blauen Müllsack hängt.
„Was ist los, Euler? Müssen Sie jetzt schon containern? Sie kriegen doch seit diesem Monat Mindestlohn.“
Mit hochrotem Gesicht taucht er aus dem Sack auf. „Mein Meridian ist weg.“
„Gestern war er doch noch da.“
„Schon. Aber der Kreiselkompass. Schauen Sie. Er ist ganz unausgerichtet.“ Er deutet auf eine runde Kugel, in der ein Metallgestell nervös hin- und herschwingt.
Olga seufzt. „Sie brauchen Urlaub, Euler. Haben Sie nicht letztens erst Ihr Foucault’sches Pendel verbummelt? Sie sollten mal über eine Single-Kreuzfahrt nachdenken. Zum Äquator reisen, sich Passatwinde um die Nase wehen lassen und nebenbei ein paar“ – sie zwinkert kokett – „romantische Stunden erleben.“
Er geht nicht auf sie ein, sondern fragt stattdessen: „Wie lief der Telefontermin?“
„Schlecht, Euler. Ganz schlecht. Jong-un meint, er sei nicht an so etwas Läppisches wie Zeit gebunden.“
„Und jetzt? Wollen Sie Schützenhilfe von der Generalkonferenz für Maß und Gewicht anfordern?“
„Ich telefoniere erstmal mit Emmett.“
„Emmett Brown? Ich dachte, er lebt schon lange in 1885.“
„Er ist grad auf Skiurlaub in Sankt Moritz.“
Euler nickt und verschwindet, „soso“ und „nobel, nobel“ murmelnd, wieder in seinem Müllsack.
Olga kennt Brown von der Solvay-Konferenz 2021, die sie beide in sechs Jahren besuchen werden. Dort ist sie ihm auch privat näher gekommen. Obwohl sie wusste, dass er verheiratet ist; sie kann eben nicht aus ihrer Haut.
Sie wählt seine Handynummer. Er geht sofort ran.
„Brown.“
„Ich bin’s, Olga.“
„Olga, meine Liebe! Schön, von dir zu hören!“ Im Hintergrund singt jemand Anton aus Tirol. „Wo bist du, mein Herz?“
„In 2015. Ich kümmere mich um die Schaltsekunde.“
„Lass mich raten! Die Kommunisten wollen mal wieder nicht.“
„Kannst du mir am 30. Juni nochmal deinen Fluxkompensator leihen?“
„Du willst wieder die Caesium-Fontäne in der koreanischen Atomuhr beeinflussen, ohne dass Kimmy es mitkriegt.“
„Wenn ich den Dienstweg nehme, kann ich mich bis zum Sommer nur mit Antragsformularen und grauen Herren herumschlagen. Bitte, Emmett. Was 2012 funktioniert hat, klappt auch 2015.“
„Dein Wort in Einsteins Ohr. Aber halt Euler da raus. Die Hohlfrucht verursacht nur Zeitparadoxa.“
„Du bist ein Schatz!“ Sie küsst auf die Sprechmuschel und legt auf.
#
Vielleicht habe ich etwas viel Fantasie. Aber wer weiß das schon so genau.
Kommentare
46 Antworten: Bestellung aufgeben ⇓
Guten Morgen!
Sehr schöne Story! Gut geschrieben und mit Humor erzählt. Vlt sollten Sie die Branche wechseln?!
Sie meinen auch, ich sollte Wissenschaftsredakteurin bei P.M. werden?
Sie, werte Frau Nessy, würden sicherlich die Qualität des interessanten Magazins ganz beträchtlich aufwerten! <3
Nur optisch, fürchte ich. Und mit meiner Mittagskochaktion. Aber danke.
Genau. Vermutlich verstünde dann auch ich, worum es dort geht.
Ach, wie entzückend! Danke für den morgendlichen Stimmungsaufheller.
(Und ich nehm‘ gern ein Kännchen, schwarz.)
//*schiebt Kännchen rüber, legt Keks dabei
Sehr schön! :-) Bitte mehr davon.
vielleicht etwas viel fantasie, aber ungemein gut formuliert und sehr unterhaltsam. hervorragend geeignet, schmunzeln hervorzurufen an so einem graunassen januarmorgen. dankeschön.
anstelle des abers würde ich lieber ein und einsetzen.
Viel Fantasie ist nicht schlimm. Ganz und gar nicht.
Immer diese Hardliner, die den Fortschritt aufhalten. Ne Moment. In diesem Fall ist es ja ein Rueckschritt. Oder so in der Art.
Ich grueble ja vor allem, ob die grauen Herren eine stumme Momo-Referenz sind, oder nur zu den Beamten passen sollen. Und wenn Sie ein Herz fuer utopische Buerokratie haben kann ich in diesem Kontext nur die Thursday Next Buecher von Jasper Fforde empfehlen. Falls Sie die noch nicht gekannt haben werden.
Es ist eine Momo-Referenz.
Ich bin doch ein West-Kind der 80er Jahre. Ich kam nicht vorbei an Momo, Michael Ende und Radost Bokel.
Fjorde – uhm, njaaaaa. Ich habe einen noch ungelesenen Fjorde im Regal, und ich weiß nicht recht. Wenn ich lese, brauche ich doch Liebe.
Das mit der zusätzlichen Sekunde kann auch nach hinten losgehen…
http://www.amazon.de/Das-Jahr-zwei-Sekunden-brauchte/dp/3810510815/ref=sr_1_22?s=books&ie=UTF8&qid=1417444512&sr=1-22&keywords=die+analphabetin+die+rechnen+konnte
Ist das gut? Ich bin immer skeptisch bei solchen Buchreihen.
Ich habe mich bei dem 100jährigen-Buch weggeschmissen vor Lachen. Bei der Analphabetin…? Nun ja, ein bißchen anderes Thema, aber viele Parallelen und beim zweiten Aufguss wirkt das dann nicht mehr ganz so originell und witzig. Fand ich zumindest
ich habe bisher nur die Analphabetin gelesen.
Hat mich an Forrest Gump erinnert, der ja auch überall mal dabei gewesen ist.
Man muss sich halt drauf einlassen, dass der Autor einen wilden Ritt durch alle Gesellschafts-, Politik- und sonstigen Gruppen veranstaltet. Wenn man sowas mag, ist es ein Buch zum Mehrfachlesen.
Den Hundertjährigen fand ich richtig schlimm. Je mehr ich mich daran zurückerinnere sogar noch schlimmer, als in meiner Rezension geschrieben.
Das ist sehr gut, fand ich zumindest. Sehr leise und eindringlich, und am Ende überraschend. Ist aber nicht aus der Reihe „Der 100jährige…“ (anderer Autor), sondern von Rachel Joyce („Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“) Das Buch kann ich im übrigen auch uneingeschränkt empfehlen.
Das ist so sehr wunderbar! Bitte mehr davon!
Nee, watt hat das Spass gemacht zu lesen. (Das schreit nach einem Buch! Oder zumindest einer Blog-Serie.)
Mal schauen. Es kam so über mich.
Andererseits: Bis Juni kann viel passieren in so einem Zentralbüro für Erdrotation.
Wann ist der Erscheinungstermin für das nächste Buch Frau Nessy? ;)
30. Juni 2015, 23 Uhr 59 und 62 Sekunden.
Wie gut, dass die eine Sekunde mehr erst am 30. Juni 2015 kommt. In 1967 hätte sie für mich eine Sekunde mehr Wehen bedeutet. So kann meine Tochter eine Sekunde länger Geburtstag feiern.
Herrlich fantasiert!
Köstlich! Sie haben in der Tat viel Phantasie – und das ist sehr gut so!
Wunderbar! Fantastisch geschrieben – mehr davon, bitte!
Die Realität ist bestimmt viel banaler: Ständig Heu schaufeln, damit der Hamster im Erdinneren weiter rennt.
Da ist ein HAMSTER drin?
Warum sagt mir das keiner? Scheiß-Realschule…
Ein Hamster? Und was machen die Doozers dann?
“Wo bist du, mein Herz?”
“In 2015. Ich kümmere mich um die Schaltsekunde.”
Hach, das klingt so nach Doctor Who. Gute Sache das!
Als stille Mitleserin muss ich mich hier mal melden:
einfach genial, dank!
Grüße aus Wien
Ulrike
Wunderbar!
…und im Hintergrund singt jemand Anton aus Tirol….
Ganz großes Kino!
Spitze- Sie sollten vielleicht noch ein Zimmer im Café anbauen und Ihr Angebot erweitern….. also ich muss unbedingt wissen, wie es mit Olga und Emmett weitergeht- das schreit nach Fortsetzung!…
Fantasie kann es nicht zu viel geben. Nie nicht. Toll!
Ich ziehe meinen (imaginären) Hut vor Ihnen Frau Nessy : Diese Fabulierkunst – wow !
Wundervoll, Frau Nessy, einfach wundervoll!
Ich reihe mich in die Reihe derjenigen ein, die gerne mehr davon lesen würden und wissen möchten, wie es weiter geht im Zentralbüro für Erdrotation.
…und was ist eigentlich damals, 2021, genau auf der Solvay-Konferenz zwischen Olga und Brown passiert? Wird es ein Happy End geben? Oder plant Euler, da zu intervenieren, weil er selbst eigentlich gerne Herr Olga wäre…? Lassen sich die Kommunisten doch noch überzeugen? Welche eigenen, ganz geheimen Pläne in Sachen Erdzeit verfolgt Herr Jong-Un?
Fragen über Fragen! Und Stoff für eine mehrteilige Buchreihe ;-).
Also, was auf der Solvay-Konferenz passiert ist … oh-ha. Nun gut. Vielleicht demnächst.
Made my day! Aber sowas von! :-D
[…] Draußen nur Kännchen – Im Zentralbüro für Erdrotation […]
Vielleicht… vielleicht…
Die Lorentzkraft der Liebe? Ich könnte gugeln, aber spekulieren ist soviel schöner…
Ich wollte auch Jasper Fforde vorschlagen, insbesondere Shades of Grey (ja, das andere Shades of Grey), gibt doch klare Parallelen zwischen Ihrer Fantasie und der des geschätzten Autors.
Ich glaube ich hatte Jasper FForde schon vor ein paar Jahren in den Ring geworfen, oder ? ;-)
Schöne Geschichte. :-)
Ich kann übrigens durchaus empfehlen „Momo“ oder auch „Die unendliche Geschichte“ heute nochmal zu lesen. Man erkennt in den Geschichten heutzutage viel viel mehr. :-)
Habe es vor Jahren – aber als Erwachsene – noch einmal gelesen und verstehe, worauf du hinaus willst. Wenn ich es jetzt ein drittes Mal lesen würde, würde ich sicher wieder Neues entdecken.
Oh, wie amüsant! Aber nicht, dass Kim jetzt sauer wird und das Blog vom Netz nimmt.
Genialer Einfall, habe den Text mit Genuss verschlungen. Grosse Klasse.
Tja, wenn man Wissenschaftsbetrieb nicht kennt und nicht mal Ahnung hat das ohne die Amis das eigne Navi nicht funktionieren würde dann kommt man auf solche Stories aus Disneyland.
Als Emotion ganz toll, mehr soll ja auch nicht sein. Andere finden das dumm und infantil, was sicher die ganze ebenso dämliche KommentaTORInnenSchar hier ganz furchtbar böse böse finden wird.
Sei’s d(r)umm, ihr wollt halt in einer Welt leben die euch verblödet. Kann ich nichts für, nur solltet ihr wenigstens von euren soziopathischen hirnphimosegeräten aufblicken wenn ihr mit entgegenkommt (es nervt auf die Dauer hirntoten ausweichen zu müssen)
My2cts.