Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Von hinten sieht es aus, als kämpfe sie gegen einen Sturm.

Ihre Füße gehen neben der Hüfte, ihr Brustkorb vor den Füßen. Mit dem Kopf voran, den Blick gesenkt, schlurft sie über einen Rollator gebeugt die Straße entlang. Ein blaues Kleid schlackert um ihre dünnen, dick nylonbestrumpften Waden. Sie stecken in klobigen Klettverschluss-Schuhen.

Ich gehe gerade an ihr vorbei, als sie in Straucheln gerät. Ihr Rollator verfängt sich in der Grasnarbe neben dem Bürgersteig. Mit der linken Hand lässt sie den Griff los und sucht rudernd ihr Gleichgewicht. Ich fasse zu.

„Vorsicht“, sage ich.

Sie klammert sich an mich und blickt mich durch eine speckige Brille an. „Ich habe heute so wenig getrunken“, sagt sie.

„Dann ist Ihnen schwindelig?“ frage ich.

Sie nickt. Ich beschließe, sie zu begleiten. Sie muss nur um die Straßenecke, einmal um die Kurve dort vorne, wo die Vogelbeeren an einem üppigen Busch wachsen. Dahinter ist das Altenheim. Dort hat sie ihr Zimmer. Das ist auch die Runde, die sie immer dreht: aus dem Torbogen heraus und immer rechts herum, einmal ums Karree, jeden Tag. Das erzählt sie mir, während wir an den Beeren vorbeizuckeln. In dem Drahtkorb ihres Rollators liegt ein schütterer Strauß Wiesenblumen. Immer wieder fährt sie ins Gras, gegen einen Stromkasten, gegen einen Zaun. Ich überlege, an ihre rechte Seite zu wechseln, um gegenzusteuern, aber ich beschließe, dass es besser ist, sie zur Straße hin abzuschirmen.

„Parkinson“, sagt sie unvermittelt. „Heute. Besonders schlecht.“ Ich überlege, was ich entgegnen kann. Etwas, das nicht nach Plattitüde klingt. Doch sie spricht schon weiter. „Aber es musste sein. Für morgen. Es musste“, murmelt sie mit Blick auf den Bürgersteig, tief nach vorne gebeugt, weit nach rechts gelehnt. Schlurp, schlurp … schlurp, schlurp machen ihre Schuhe auf dem Pflaster.

„Haben Sie morgen etwas Besonderes vor?“, frage ich, doch sie murmelt nur: „Normal hätte ich zu Hause bleiben sollen.“ … schlurp, schlurp …. schlurp, schlurp … „Normal wäre ich zu Hause geblieben.“

Wir zuckeln durch den Backsteinbogen auf den Eingang des Heims zu. Windspiele drehen sich. Ein alter Mann mit einem herabhängenden Mundwinkel sitzt im Rollstuhl vor der automatischen Glastür, eine braune Wolldecke über den Beinen. Als wir schon an ihm vorbei sind, ist ihr Rollator schneller als sie. Fast fällt sie ins Foyer. Ich packe sie mir erneut.

„Vorsicht“, sage ich.

Sie blickt mich aus ihrem gebeugten Rücken heraus an. „Morgen hat er Geburtstag“, sagt sie, dreht sich leicht um und deutet auf den Mann im Rollstuhl. „Die sind für ihn.“ Sie zeigt auf die Blumen in ihrem Körbchen. „Seine Frau, tot. Krebs. Vor ein paar Monaten. Ich bin Frau Braun.“ Sie hält mir ihre Linke hin.

Ich ergreife die Hand und schüttele sie. „Ich bin Frau Nessy“, sage ich.

„Sie können jetzt gehen“, sagt sie. „Ich komme nun zurecht.“

Ich lasse sie los, zögere kurz und sage dann: „Tschüs. Und schöne Feier morgen.“

Sie nickt, stützt sich auf ihren Rollator und schlurft, die Füße links, der Oberkörper rechts, ins Innere des Heims.

Kommentare

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  1. M sagt:

    Mhm.
    Anfang des Jahres wurde bei meinem Vater Parkinson festgestellt, und er „läuft“ auch fleißig dagegen an. Wenn er so alt ist, dass er mit Rollator im Altenheim ist, würde ich mir wünschen das er auchnoch so „fit“ ist und jeden Tag rausgeht…

    Argh. Geschichten von alten Menschen machen mich immer traurig.

    1. Nessy sagt:

      Parkinson ist der größte Mist.

  2. jpr sagt:

    Ach, Frau Nessy, was tun wir nur, dass es mehr
    Leute gibt wie Sie und Frau Braun. Anteilnehmend an Ihrem Nächsten und nicht dadurch geärgert, dass der Mensch vornean so langsam geht und den ganzen Bürgersteig braucht? Ich versuche mir immer zumindest ein Beispiel zu nehmen.

    (und wie viele Leute Kinder haben und die nach aussen gegen den Radweg oder die Strasse laufen lassen ist auch nie in meinen Kopf gegangen).

    1. Giorgione sagt:

      Ich halte immer an, wenn ich Leute sehe, die sich suchend umsehen. Ich fahre auch Umwege, wenn ich Menschen irgendwohin leiten muss und das nicht richtig beschreiben kann. Ist doch normal, oder? Leider nicht. Ich habe das jedenfalls auf Sardinien gelernt – doch machen das alle. Und das ist sehr schön.

    2. Nessy sagt:

      Ist normal. Ich konnte sie doch nicht alleine lassen. Hinterher fällt sie um, und niemand sieht’s.

  3. flyhigher sagt:

    Schöne Geschichte. Hilfsbereite Frau Nessy. Anders hätte ich Sie mir auch nicht vorstellen können.

  4. T.M. sagt:

    Diese Frau Nessy ist ein Schatz.

  5. Auf dem weg zur Grundschule befindet sich ein Altenpflegeheim, an der gegenueberliegenden Straßenseite eine Bushaltestelle. Schon häufiger habe ich, wenn ich die Jungfische zum Reitunterricht abholen wollte, auf die Bremse getreten und den Warnblinker eingeschalten, um Senioren zu Hilfe zu eilen. Sei es, dass sie auf der Strasse standen und mit dem Rollator den hohen Bordstein nicht geschafft haben; sei es, weil mir ein in Pantoffeln und Bademantel an der Haltestelle sitzender Mensch mit einem von Kleidungsstücken überquellenden Hackenporsche seltsam vorkam.
    Dass die unterbelichteten Schüler der nahe liegenden weiterführenden Schule ihren Spass an dem Anblick hatten, nun ja… Aber dass keiner der Autofahrer vor mir angehalten hat bzw. andere Eltern, die mit ihren Sprösslingen auf dem Heimweg waren, nicht wenigstens in dem Pflegeheim Bescheid gesagt haben … Ich glaube, trotz Erderwärmung wird das Klima hier kälter.

    1. Nessy sagt:

      Alte Leute, die mit ihrem Rollator nicht über die Bordsteinkanten kommen, kenne ich auch. Allerdings neigen sie dazu, mitten über die Straße zu gehen, statt 30 Meter weiter den Zebrastreifen mit dem abgesenkten Bordstein zu nehmen … Und im Winter kommen dann noch die Schneehaufen dazu.

  6. Kirsten sagt:

    Schöne Geschichte. Witz und Respekt so virtuos verknüpft, das liest man selten. Sie schauen genau hin, und Sie behalten dabei auch sich selbst präzise und unbestechlich im Blick.
    Wenn ich einen Verlag hätte, würde ich Ihnen einen Buchvertrag anbieten.

    1. Nessy sagt:

      Danke. Später mal – dann schreibe ich ein Buch.

  7. oldschool sagt:

    Echt toll, lieb, süß…Sie beide!!!

  8. Martin W. sagt:

    Eine wunderbare Geschichte, liebe Frau Nessy!
    Irgendwie rührselig, aber dann doch wieder auch nicht.

    „schlurp, schlurp“… das verfolgt mich heute durch den Tag…

  9. Die E. sagt:

    //*schreibt „Buch von Frau Nessy“ auf den Weihnachtswunschzettel

    1. Nessy sagt:

      //*beißt in den ersten Lebkuchen der anbrechenden Weihnachtssaison

  10. Serendipity sagt:

    So schön geschrieben…….. Einfach wunderbar erzählt. Sie bewirken etwas in den Köpfen der Menschen. Danke Frau Nessy!

  11. E sagt:

    Ganz groß. Vielen Dank.

  12. Danny Wilde sagt:

    Es sind Kleinigkeiten, mit denen man älteren Herrschaften große Freude machen kann.

    Neulich hat sich vor mir an der Supermarktkasse ein altes Ömchen mit Rollator die Einkaufstüte ziemlich vollgepackt. Es war absehbar, dass sie sie nur mit großen Schwierigkeiten in ihren Rollatorkorb würde hieven können.

    Ich bot ihr Hilfe an, die sie auch dankbar annahm. Thema eigentlich durch. Als Ömchen sich entfernt und ich mein Portemonnaie raushole, um zu bezahlen, spüre ich eine Hand auf meine Schulter klopfen. Sie gehörte zu dem rüstigen Rentner hinter mir: „Du bis ene feine Kerl, dat muss ich Dir mal sagen.“

    Nicht, dass mich das nicht gefreut hätte. Die Geste des Rentners zeugt aber auch davon, das sowas anscheinend nicht mehr selbstverständlich ist und lässt mich ratlos mit der Frage zurück: Warum?

    1. Nessy sagt:

      Ich frage mich, wie man an Menschen vorbeigehen kann, die Hilfe benötigen: Mütter mit Kinderwagen vor Bahnhofstreppen, gebrechliche Alte mit schweren Koffern, Leute, denen es schlecht geht. Ich kriege gar nicht hin, nichts zu machen.

      In Supermärkten bin ich übrigens fest als Joghurt-aus-dem-oberen-Regal-Holerin gebucht.

    2. Lobo sagt:

      Tür aufhalten, Sachen aufheben, die anderen runtergefallen sind, einfach zuvorkommend sein und freundlich.

      Macht einen selbst glücklich und andere auch.

      Das ist jedenfalls meine Erfahrung.

    3. Jackie sagt:

      „Ich frage mich, wie man an Menschen vorbeigehen kann, die Hilfe benötigen: Mütter mit Kinderwagen vor Bahnhofstreppen, gebrechliche Alte mit schweren Koffern, Leute, denen es schlecht geht. Ich kriege gar nicht hin, nichts zu machen.“

      Weißt Du, Frau Nessy, einer Mama mit Wagen oder noch schlimmer, einer hochschwangeren Frau hilft wirklich nicht jeder…. musste ich leider oft erleben……

      Ich selber kann auch nicht einfach zusehen wie jemand, der Hilfe benötigt, keine bekommt. Lieber einmal zu oft jemanden gefragt, ob man helfen kann als zu wenig!

  13. Sasan sagt:

    Berührende Geschichte. Da gehen mir direkt die Gedanken durch den Kopf, wie mein „Lebensabend“ wohl aussehen mag. Ob es dann auch Menschen wie Sie oder Fr. Braun gibt, die noch für mich da sind, mir zuhören, mich festhalten oder mir vielleihct sogar Blumen pflücken gehen – Hoffentlich…!

    1. Nessy sagt:

      Ich finde so einen Besuch im Altenheim ja immer ziemlich traurig. Allein der Geruch. Meinetwegen ziehe ich später in ein Heim, aber nur, wenn es dort gut riecht.

    2. Lobo sagt:

      Der Geruch und auch die Inneneinrichtung erinnern mich zusehr an Krankenhaus, so war es zumindest bei meiner Oma (mütterlich).

      Mein Opa (väterlich) war da ganz anders untergebracht, das hieß aber auch „betreutes Wohnen“ und nicht Altenheim.

    3. Nessy sagt:

      Im Krankenhaus riecht’s wenigstens noch ein bisschen nach Gesundwerden. Im Altenheim riecht es nach Urin, Desinfektionsmitteln und Tod.

  14. HecPac sagt:

    danke fürs aufschreiben!

  15. In unserem Haus wohnt auch eine Dame mit dieser Krankheit. Ich bewundere diese Frau. Sie schiebt auch einen Rollator vor sich her und man darf ihr nicht helfen. Ich traue mich schon gar nicht mehr zu fragen… Sie macht aber noch Witze wie „ich habe schon Winterbereifung drauf junger Mann“ Toll wie man sich nicht unterkriegen lässt!

    1. Nessy sagt:

      Anders geht’s auch nicht. Sonst grämt man sich ja ins Grab.

  16. Bella sagt:

    Die Begegnung wunderbar anrührend erzählt, es sollte mehr Leute wie Sie geben.

  17. Richie sagt:

    Traurige Alltagsgeschichte! Die wenigesten hätten die alte Dame begleitet.

  18. Ein sehr zutreffender Spruch: „… Ich glaube, trotz Erderwärmung wird das Klima hier kälter…“

  19. AnJo sagt:

    HHmm, nicht falsch verstehen aber so traurig finde ich die Geschichte gar nicht. Erstens waren Sie, Frau Nessy, ja da um zu helfen. Und zweitens finde ich die Geste der alten Dame, die den Rollator-Marathon auf sich genommen hat um dem alten Herrn Blumen zu bringen, ganz zauberhaft. Ein Lichtblick eher, dass da draußen Menschen sind, wie Nessy und die Dame, die etwas geben können um’s wärmer zu machen. DANKE dafür, AnJo

    1. Nessy sagt:

      Ich finde nur Altenheime und einsame Gebrechlichkeit traurig.

  20. Blogolade sagt:

    Parkinson ist ein Arsch.

    1. Nessy sagt:

      Ein Riesenarsch.

  21. kvinna sagt:

    *sorgsam eine kohlkopfgroße Asternblüte in eine entsprechend potente Wase drapiert und im Altenheimfoyer auf den Tisch stellt*

    1. kvinna sagt:

      Jessas. Vase heißt das. Vase!!!

    2. Nessy sagt:

      Bestimmt eine schwedische Wase aus der Wasa-Dynastie.

  22. […] Gestern treffe ich noch eine Frau Braun. […]

  23. Und dann fiel mir plötzlich Frau Braun ein…

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