Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

In der Wohnung ist er herangewachsen. Hier wird er sterben.

Thorsten am Frühstückstisch

Ich brauchte den Wäscheständer im Bad, denn auf dem Balkon trocknet die nasse Kleidung nicht mehr. Es war an der Zeit, Thorsten loszubinden und ihn ins Haus zu holen.

Solange, wie er noch möchte, darf er nun mit mir am Frühstücks- und Abendbrottisch sitzen. Es ist mir eine Ehre, treuer Kamerad.

Die Frau vor mir deutet auf ein Camembert-Sandwich.

Kundin: Können Sie mir das erwärmen?

Die Brötchen-Dealerin erwärmt das Sandwich und gibt es der Kundin.

Kundin: Das ist jetzt aber warm!
BD: …?
Kundin: Ich wollte es lau!
BD: Vielleicht lassen Sie es noch ein bisschen stehen …?
Kundin: Glauben Sie, ich habe Zeit zu warten, bis es wieder kalt wird? Ich habe doch nicht ewig Mittagspause! Oder wie lange haben Sie mittags Pause?
BD: …
Kundin: Ich dachte, das sei hier die Snacktheke. Snack! Sie arbeiten doch nicht den ersten Tag hier. Da müssen Sie es doch wohl hinkriegen, dass man sich als Kunde nicht die Finger verbrennt.
BD: …
Nessy: Fühlen Sie doch nochmal. Jetzt ist es bestimmt schon kühler.
Kundin: [sich zu mir umdrehend] Sie sind wohl eine ganz Schlaue.

Neuer Job, neue Mittagsroutinen.

Am Fuße des Bürogebäudes, in dem ich nun arbeite, befindet sich eine Verkaufsbude. Sie gehört Körri-Karl. Körri-Karl hat genau drei Gerichte im Angebot: Currywurst-Pommes, Currykrakauer-Pommes, nur Pommes. Man munkelt, er arbeite mit dieser Trias gerade an seiner vierten Million.

Tatsächlich steht vor Körri-Karl fast immer eine Schlange. Er beschäftigt vier Damen, die in dem engen Wagen jeweils einen festen Platz haben: Eine nimmt die Bestellungen entgegen, die andere sorgt für ausreichend Würste auf dem Grill, die Dritte legt Wurst und Soße auf einen Plastikteller, die Vierte füllt Pommes auf. Sie stehen in einem Quadrat an den vier Wänden des Standes, ihre üppigen Hintern treffen sich fast in der Mitte.

Die Damen sind sehr tüchtig. In der Mittagszeit geht ungefähr jede halbe Minute eine Portion Currywurst-Pommes über die Theke, 120 in der Stunde, 360 zwischen halb zwölf und halb drei. Das ergibt ca. 1400 Euro Einnahmen, plus zusätzlichem Umsatz aus den Segmenten „Ketchup/Mayo“ und „Extra scharf“. Das ist das Kerngeschäft.

Meine Bürogemeinschaft ist natürlich nicht ganz unschuldig an Körri-Karls guter Bilanz. Die Nerds überlegen sogar, eine Körri-Karl-Käm zu installieren, um auch den Kollegen, deren Büros nach hinten raus gehen, gegen 13 Uhr einen spontanen Blick auf die Schlangenlänge zu ermöglichen. Das Projekt ist hoch priorisiert.

Ich habe am Freitag zum ersten Mal Körri-Karls Currywurst probiert, schon allein wegen der Integration in die Gruppe. Man muss sich schließlich den Gepflogenheiten anpassen. Und in der Tat: Die Soße ist richtig gut.

Zwei Läden weiter befindet sich übrigens – quasi als Ausgleich für Körri-Karl – ein Obstladen, den die Kollegen angesichts seiner Preise „Früchte-Juwelier“ getauft haben. Ab und an kann man dort eine Nektarine erwerben, für das gute Gewissen. Allerdings nicht zu oft, wurde ich gewarnt. Das werde sonst zu teuer.

Es gibt Dinge, die kann man preiswert kaufen.
Und es gibt Wimperntusche.

Wimperntusche muss etwas kosten. Denn billige färbt nach ein paar Stunden ab, und ich sehe aus wie heroinabhängig. Gute Wimpterntusche gibt es allerdings nur in Parfümerien – menschenrechtsverletzende Orten, die so eine Art Water Boarding machen, mit Gerüchen. Das ist schon übel genug. Parfümerie-Fachverkäuferinnnen sind darüber hinaus die letzten Menschen, mit denen ich auf einer Wellenlänge bin.

Nessy: Ich nehme die hier. [deutet auf Stamm-Wimperntusche]
Parfüm-Uschi: Eine gute Wahl. Die haben wir gerade im Kombipack. Mascara, Gesichtwasser und Kajal, alles zusammen für 28 Euro.
Nessy: Uhm, ja, schön. Ich brauche aber nur die Mascara.
PU: Im Kombipack bekommen Sie aber …
Nessy: Ich weiß. Brauche ich aber nicht.
PU: Nicht? Einen Duft dazu?
Nessy: Nein.
PU: Nein? Womit schminken Sie sich denn ab?
Nessy: Ich wasche mich. Mit Seife.
PU: MIT SEIFE??

Ich hätte an dieser Stelle auch sagen können: „… und vor dem Zugbettgehen kaue ich immer eine Handvoll Nägel.“

PU: Mit Handseife?
Nessy: Seife halt. Wasser, Seife, sowas. Sie wissen schon.
PU: Und womit pflegen Sie dann Ihre Haut?
Nessy: Creme. Tagescreme. Von dm.
PU: Puh, ja, das ist … also …  Seife. Das ist … ich meine, Sie müssen sich darüber im Klaren sein: In Ihrem Alter verzeiht die Haut noch viel. Aber wenn Sie erstmal auf die 30 zugehen, sollten Sie dringend vorsorgen. Wirklich! Dringend! Sonst haben Sie schon mit Ende 20 Ihre ersten Falten. Die kriegen Sie nie wieder weg.
Nessy: Das wird schlimm.
PU: Ja!
Nessy: Und das, wo ich jetzt schon aussehe wie 25.
PU: Na, wie 25 vielleicht nicht. Trotzdem. Tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen. Aber sehen Sie, ohne richtigen Pflegeprodukte ist das halt ein Problem.

Darüber muss ich erstmal mit meinem Therapeuten sprechen. Ich Teenager, ich.

Mutter sucht eine neue Hose.

Mutter: Die haben jetzt nur noch Hüfthosen. Ich weiß gar nicht, wer sowas trägt.
Nessy: Ich.
Mutter: Du? Dann sehen ja alle deinen Schlüpfer!
Nessy:  Nein, Mama.
Mutter: Und du hast gar nichts im Rücken.
Nessy: Einen Pullover.
Mutter: Ach. Ich suche was mit Taille. Und etwas heller. Kennst du diese Farbe? Zwischen ocker und cognac.
Nessy: Hellbraun ?
Mutter: Wie beige, nur mit einem Schuss Zitrone.
Nessy: …
Mutter: So eine Art Indischgelb mit Umbra.
Nessy: Hitler?
Mutter: Kind … !

Nessy: Manchmal komme ich mir vor wie bei Loriot.
Mutter: Und wer glaubst du hat welche Rolle?
Nessy: Ich bin auf jeden Fall Dicki, das Kind, das nie was sagen darf.
Mutter: Soso.

Gestern treffe ich noch eine Frau Braun.

Oder besser gesagt: Eine Frau Braunitschka, kugelrund und mit weißem Haar, die sich die Treppe zur U-Bahn hinunterjongliert. Mit der einen Hand klammert sie sich ans Geländer, mit der anderen Hand balanciert sie ihren Rollator, an ihrem Arm baumelt ein Jutebeutel. Die Rolltreppe ist kaputt, der Aufzug auch.

„Ich nehme Ihnen mal den Rollator ab, ja?“ sage ich. Sie ist schon ganz bleich. Mit den Augen eines Monchichis schaut sie mich an.

„Mann ist krank“, sagt sie mit russischen Akzent. „Ich muss in Krankenhaus. Wäsche bringen.“ Sie deutet auf den Beutel, den sie in der Hand hat.

Ich trage den  Rollator und stütze sie die Treppe hinunter.

„Danke“, sagt sie unten.
„пожалуйста, не стоит“, sage ich. Bitte, gern geschehen.
Ruckartig blickt sie mich an. „Вы говорите по-русски?“, fragt sie.
„Nein“, sage ich. „Ich spreche kein Russisch. Nur ein paar Sätze.“
Sie lächelt. Ihre runden Augen schimmern wässrig. „Wissen Sie, viele Leute mögen uns nicht. Weil wir Aussiedler sind.“
„Ja“, sage ich. „So ist das hier.“

Als ich in der Bahn sitze und bereits mein Buch ausgepackt habe, rollt sie mit ihrem Rollator noch einmal zu mir herüber.

„Wollte ich sagen“, sagt sie. „Aber ich habe nicht getraut. Sie sind eine sehr hübsche Mädchen. Wirklich hübsch. Wünsche ich Ihnen viel Glück für das Leben. Haben Sie eine schöne Tag.“

Schön, das:

[vimeo http://www.vimeo.com/27244727 w=400&h=225]
Wenn ich so an meine eigenen Reisen denke, habe ich auch immer etwas gelernt:
in den USA: dass Europa sehr klein ist
in Finnland: saunieren für Profis
in Norwegen: Karg ist manchmal besonders schön
in Schweden: Kanu fahren
in Island: Entfernungen abschätzen

auf den Kanaren: an meine Grenzen gehen
in Italien: Kopfsprung ins Wasser
in Ungarn: knutschen
in Großbritannien: what happens at Chislehurst
in Russland: Gastfreundschaft und Wimpern tuschen
in Griechenland: jeder Tag verdient eine Melonenpause
in Dänemark: mit schreckhaften Leuten nicht in dunkle Höhlen gehen
in Kroatien: es geht immer weiter, auch mit leckender Ölwanne
in China: dass westliche Kultur nur eine Möglichkeit von vielen ist
in Frankreich: ein Whiskey hilft immer

Am Wochenende habe ich ein neues Wort gelernt: drumzu.

Nimm das Paket und wickel das Band drumzu.
Ist das irgendwo in Lemförde und drumzu?

Wir gehen um den Dümmer drumzu.

Als Sauerländerin kenne ich ja viele komische Wörter, aber „drumzu“ ist mir noch nicht untergekommen. Wird offensichtlich auch nur in einem Radius von zehn Kilometern um Stemwede gebraucht. Dort aber reichlich und zu jeder Gelegenheit.

Von hinten sieht es aus, als kämpfe sie gegen einen Sturm.

Ihre Füße gehen neben der Hüfte, ihr Brustkorb vor den Füßen. Mit dem Kopf voran, den Blick gesenkt, schlurft sie über einen Rollator gebeugt die Straße entlang. Ein blaues Kleid schlackert um ihre dünnen, dick nylonbestrumpften Waden. Sie stecken in klobigen Klettverschluss-Schuhen.

Ich gehe gerade an ihr vorbei, als sie in Straucheln gerät. Ihr Rollator verfängt sich in der Grasnarbe neben dem Bürgersteig. Mit der linken Hand lässt sie den Griff los und sucht rudernd ihr Gleichgewicht. Ich fasse zu.

„Vorsicht“, sage ich.

Sie klammert sich an mich und blickt mich durch eine speckige Brille an. „Ich habe heute so wenig getrunken“, sagt sie.

„Dann ist Ihnen schwindelig?“ frage ich.

Sie nickt. Ich beschließe, sie zu begleiten. Sie muss nur um die Straßenecke, einmal um die Kurve dort vorne, wo die Vogelbeeren an einem üppigen Busch wachsen. Dahinter ist das Altenheim. Dort hat sie ihr Zimmer. Das ist auch die Runde, die sie immer dreht: aus dem Torbogen heraus und immer rechts herum, einmal ums Karree, jeden Tag. Das erzählt sie mir, während wir an den Beeren vorbeizuckeln. In dem Drahtkorb ihres Rollators liegt ein schütterer Strauß Wiesenblumen. Immer wieder fährt sie ins Gras, gegen einen Stromkasten, gegen einen Zaun. Ich überlege, an ihre rechte Seite zu wechseln, um gegenzusteuern, aber ich beschließe, dass es besser ist, sie zur Straße hin abzuschirmen.

„Parkinson“, sagt sie unvermittelt. „Heute. Besonders schlecht.“ Ich überlege, was ich entgegnen kann. Etwas, das nicht nach Plattitüde klingt. Doch sie spricht schon weiter. „Aber es musste sein. Für morgen. Es musste“, murmelt sie mit Blick auf den Bürgersteig, tief nach vorne gebeugt, weit nach rechts gelehnt. Schlurp, schlurp … schlurp, schlurp machen ihre Schuhe auf dem Pflaster.

„Haben Sie morgen etwas Besonderes vor?“, frage ich, doch sie murmelt nur: „Normal hätte ich zu Hause bleiben sollen.“ … schlurp, schlurp …. schlurp, schlurp … „Normal wäre ich zu Hause geblieben.“

Wir zuckeln durch den Backsteinbogen auf den Eingang des Heims zu. Windspiele drehen sich. Ein alter Mann mit einem herabhängenden Mundwinkel sitzt im Rollstuhl vor der automatischen Glastür, eine braune Wolldecke über den Beinen. Als wir schon an ihm vorbei sind, ist ihr Rollator schneller als sie. Fast fällt sie ins Foyer. Ich packe sie mir erneut.

„Vorsicht“, sage ich.

Sie blickt mich aus ihrem gebeugten Rücken heraus an. „Morgen hat er Geburtstag“, sagt sie, dreht sich leicht um und deutet auf den Mann im Rollstuhl. „Die sind für ihn.“ Sie zeigt auf die Blumen in ihrem Körbchen. „Seine Frau, tot. Krebs. Vor ein paar Monaten. Ich bin Frau Braun.“ Sie hält mir ihre Linke hin.

Ich ergreife die Hand und schüttele sie. „Ich bin Frau Nessy“, sage ich.

„Sie können jetzt gehen“, sagt sie. „Ich komme nun zurecht.“

Ich lasse sie los, zögere kurz und sage dann: „Tschüs. Und schöne Feier morgen.“

Sie nickt, stützt sich auf ihren Rollator und schlurft, die Füße links, der Oberkörper rechts, ins Innere des Heims.



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