Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

In meiner Kindheit wurde ich zum Sparen erzogen.

Als Pimpf bekam ich eine Spardose. Dort warf ich Pfennige ein. Am Weltspartag trug ich sie in die Sparkasse, bekam ein Knax-Heft und einen Eintrag in mein Sparbuch. Diese Vorgehen war mühsam, aber so einträglich, dass ich das Prinzip auch im Erwachsenenalter beibehalte.

Statt Pfennige spare ich nun Zwei-Euro-Münzen. Kommt mir eine unter, bringe ich sie nicht wieder in den Umlauf, sondern lege sie in eine alte, hölzerne Zigarrenschachtel. So kommt über Monate ein erkleckliches Sümmchen zusammen. Ich genehmige mir davon Urlaube oder andere Sonderausgaben.

Geändert haben sich seit der Knax-Zeit nur die Kreditinstitute.

Als ich dort vor einigen Jahren erstmalig mit meinem Zigarrenkästchen auflief und sagte, ich wolle dieses gesparte Geld auf mein Sparkonto einzahlen, schaute mich das Schalterfräulein befremdet an. Das seien ja alles Münzen, sagte es, wie ich mir das vorstelle. Ich antwortete, dass ich es mir so vorstelle, dass sie das Geld in eine Zählmaschine werfe, es auf meinem Konto aufbuche und mir eine Quittung darüber aushändige. Eine Zählmaschine, sagte das Fräulein, gebe es in ihrem Hause nicht mehr, nicht für Privatkunden, die habe man abgeschafft, weil es inzwischen schließlich andere Möglichkeiten gebe, wenn man sich mal etwas Besonderes leisten wolle, ob sie mich darüber mal informieren solle. Nein, antwortete ich, das sei nicht vonnöten. Ich sagte, dass ich das Beiseitelegen von Geld für die bewährteste Methode hielte, Anschaffungen zu tätigen und zu Vermögen zu kommen.

Nach einigem Hin und Her zählte das Fräulein das Geld dann per Hand, gab mir aber einige Blätter mit, in die ich die Münzen in Zukunft einrollen solle, falls ich gedenke, weiterhin auf diese antiquierte Weise zu wirtschaften. Seitdem rolle ich die Euromünzen, bevor ich sie zur Bank bringe.

Doch jedesmal, wenn ich umziehe und infolgedessen eine neue Filiale aufsuche, ist das Schalterfräulein gleichermaßen verwirrt und beginnt augenblicklich, mich über Kredite und Anlageformen zu unterrichten. Gestern sagte es – und sah mich dabei an wie Mutter Teresa einen Leprakranken -, auch für den kleinen Geldbeutel gebe es Möglichkeiten. In diesen Zeiten müsse man sich wirklich nichts mehr vom Munde absparen, was denn genau meine Wünsche seien, sie helfe gerne, das sei das Selbstverständnis ihres Hauses.

Mein Wunsch, sagte ich, sei, dass sie mich nicht Kreditangeboten belästige, nicht mündlich und nicht schriftlich, auch wolle ich keine Beteiligungen erwerben oder angerufen werden, was mit den Kröten auf meinem Sparbuch geschehen solle. Ich wolle gerne einfach nur sparen – und bitte eine neue Spardose haben, denn meine Kiste sei in die Jahren gekommen und recht ramponiert.

Spardosen, sagte das Fräulein, gebe sie schon seit Jahren nicht mehr aus.

Mein kulinarischer Berlin-Rückblick:

+++ Freitag +++

Pasternak, Prenzlauer Berg. Russisches Frühstück mit Blini, Sirniki und einem Buchweizensalat: das beste Frühstück des Wochenendes. Stimmungsvolle Atmosphäre mit dunklen Möbeln, karierten Tischdecken, großer Theke und alten Fotos. Sehr zu empfehlen.

Frühstück im Pasternak

Im Uhrzeigersinn, beginnend auf 9 Uhr: Paprika-Schafskäse-Creme, Frischkäse, Buchweizensalat, Marmelade, Obst, Sirniki (Quarkpuffelchen), Vanille-Mandelquark, Blini-Röllchen mit Spinat, in der Mitte Rührei - dazu ein Brotkorb

Misses & Marbles habe ich gestern schon erwähnt. Aufgrund des vorangegangenen Frühstücks konnte ich den Kuchen nicht probieren. Aber er sieht so fantastisch aus, dass man das unbedingt tun sollte.

12 Apostel, S-Bahn-Bögen Friedrichstraße. Atmosphärisches Gewölbe mit großer Theke und offenem Steinofen. Ich hatte eine Pizza Tiroler Art mit Crème Fraiche, Speck und Kirschtomaten. War gut, aber nichts Besonderes. Immer, wenn ein Zug übers Restaurant fährt, klirren die Gläser. Muss man mögen.

+++ Samstag +++

Winterfeldtmarkt. Immer mittwochs und samstags. Großartige Auswahl an türkischen Pasten, mediterranen Gemüsen und frischem, deutschen Brot. Das nächste Mal, wenn ich dort bin, werde ich einkaufen und mein Frühstück im Appartement einnehmen.

Corroboree, Potsdamer Platz. Ein Not-Frühstück im australischen Restaurant, weil der BVG-Streik anderes unerreichbar machte, es schon ein bisschen später und ich unorganisiert war. Es gab Brötchen, Aufschnitt, Marmelade – aber ach, alles so lieblos. Lange Wartezeit, obwohl wenig los war. Wahrscheinlich fand im Raum nebenan gerade der unsichtbare Illuminatenstammtisch statt, und es mussten 30 imaginäre Schnitzelpfannen zubereitet werden.

Beaker’s, Prenzlauer Berg. Ein Rock’n’Roll-Schuppen mit gemütlichem Sofa. Das Publikum war eher alternativ. Ich habe nur einen Minztee getrunken, denn danach ging’s direkt zum Abendessen ins Thien Duc. Wer im Beaker’s frühstückt, kann sich seine Zutaten einzeln zusammenstellen. Konnte ich leider nicht ausprobieren. Kritikpunkt: abgestandene, nach alten Möbeln riechende Luft. Gehört wahrscheinlich zur Gesamtkomposition.

Thien Duc, Prenzlauer Berg. Das beste asiatische Essen, das ich außerhalb Chinas gegessen habe. Hamma. Wahnsinn. Unbedingt hingehen. Ich hatte lauwarme Reisnudeln mit Gemüsen und Frühlingsrollen, als Nachtisch eine gebackene Banane. Das nächste Mal werde ich eine Woche vorher fasten und dann im Thien Duc die Raupe Nimmersatt mimen.

Abendessen im Thien Duc

Reisnudeln mit verschiedenen Gemüsen, darunter warmen Gurken. Außerdem im Bild: Frühlingsrollen und pikante Fischsauce.

+++ Sonntag +++

Tomasa, Friedenau. Italienischer Laden. Außen unscheinbar, innen hell, schön aufgeteilt und mit gemütlichen Frühstückssesseln. Das Frühstück selbst war gut; bei den angebotenen Zusammenstellungen hätte ich mir andere Kombinationen gewünscht, aber das ist wohl meinem individuellen Geschmack geschuldet. Eine solide Sache.

Frühstück im Tomasa

Rührei, Brötchen mit Gazpacho, Frischkäse, Obst, gebackener Camembert mit Preisselbeeren, mediterranes Gemüse - dazu ein Brotkorb

Die Preise waren überall moderat. Liegt wohl an Berlin.

Drei Tage Berlin.

+++ Tag eins – Freitag +++

Der Freitagmorgen begann bei der zauberhaften Frau Sara von Misses & Marbles, einem kleinen Caféladen im Prenzlauer Berg mit Kuchen, von dem Sie auch eine Nacht später noch träumen.
„Uhmm, eine Frage“, sagte ich, als ich meine Orangina bezahlte. „Kommentieren Sie schonmal bei der lieben Nessy im Blog?“
„Ja“, sagte Frau Sara und guckte verdutzt.
„Dann bin ich die liebe Nessy“, sagte ich und stellte mich vor. Frau Sara lud mich prompt zur Orangina ein.

Am Nachmittag war ich mit Frau Annemarie verabredet. Sie schaut öfters hier im Kännchencafé vorbei, arbeitet in der Verwaltung des Bundestages und darüber hinaus in einem der 22. Ausschüsse. Sie hatte mich nach meinem Beitrag zu einer persönlichen Führung durch die Bundesliegenschaften eingeladen.

Bundeskanzleramt

Blick aus dem Paul-Loebe-Haus auf das Kanzleramt

Wir trafen uns an ihrem Arbeitsplatz im Paul-Loebe-Haus, gingen durch Sitzungssäle, in den Bundestag, ins Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, in die Bibliothek, fuhren in gläsernen Aufstühlen hinauf und hinab, liefen über Brücken und durch Katakomben, in die Kantine, auf Balkone – bis hinein in die Sporthalle der Angestellten und Abgeordneten, die es gibt, damit die Damen und Herren sich ertüchtigen und nicht dem Gesundheitssystem auf der Tasche liegen.

Bundeshandballhalle

Bundeshandballhalle im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus

An dem Tag, als sich der zehnte Präsident der Bundesrepublik Deutschland aus dem Amt verabschiedete, befand ich mich also im Band des Bundes. Ich fühlte mich sehr geschichtlich.

Wie das immer im Leben so ist, ist das, was am Rande stattfindet, viel interessanter als das eigentliche Geschehen. So war das Gespräch mit Frau Annemarie noch um einiges erhellender als die Immobilien, die sie mir zeigte. Menschen, die mit Überzeugung tun, was sie tun, beeindrucken mich stets. Die große, unpersönliche Politik wirkt gleich viel anders, wenn sie plötzlich ein Gesicht hat – und eine Stimme, die erzählt. Herzlichen Dank dafür!

Reichstag

Blick aus dem Sitzungssaal der FDP-Fraktion auf den Reichstag

Den schönsten Sitzungssaal hat übrigens die FDP, noch.

+++ Tag zwei – Samstag +++

Am Samstag begab ich mich in die Berliner Unterwelt und stieg in die Zivilschutzanlage am Blochplatz hinab, ein Schutzkeller, in dem 1.300 Menschen für 48 Stunden überleben können – vorausgesetzt, sie drehen schnell genug die Kurbel der Lüftungsanlage. Die Anlage wurde im Zweiten Weltkrieg genutzt und in den 70er Jahren als Atomschutzkeller reaktiviert. Der Atomschutz bestand aus einer neuen Schicht weißer Deckenfarbe – das Übrige war Psychologie und zu nichts nütze.

Schild: "Übrigens sind es immer die anderen, die sterben."

Schild am Ausgang des Luftschutzraums Blochplatz, Berlin-Gesundbrunnen

Unter diesen Umständen halte ich es im Falle eines Atomschlag mit dem Herrn, der uns durch die Unterwelten führte: Wenn es soweit käme, sagte er, nähme er sich eine Flasche Wein, suche sich ein schönes Plätzchen und werde schmerzlos innerhalb von zwei Sekunden verdampfen.

Am Samstagabend Kino in der Kulturbrauerei: „Ziemlich beste Freunde“. Wer den Film noch nicht gesehen hat: Er sei wärmstens empfohlen.

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+++ Tag drei – Sonntag +++

Sonntag ist seit jeher der Tag der Klassik und der Besinnung – kurzum: der Alten Nationalgalerie. Seit ich mit 15 Jahren erstmals Museen mit Malerei besuchte, mag ich die Bilder und die Geschichten dahinter.

Alte Nationalgalerie

Alte Nationalgalerie

Ermitage, Louvre, Museum of Modern Art, Guggenheim Museum, Tretjakov-Galerie – bislang war ich vor allem im Ausland in Museen. Nun also mal deutsche Kunst. Erstaunlich dabei ist, wen man alles nicht kennt: Anton von Werner zum Beispiel. Dabei malt er Bilder, in denen jeder, der mag, viel entdecken kann.

Im Etappenquartier von Paris

Anton von Werner: Im Etappenquartier von Paris, 24. Oktober 1870, gemalt 1894

Ein bisschen erinnern mich diese alten, großen Gemälde an Wimmelbilder: An jeder Ecke gibt es etwas zu sehen.

Anderes weckt eher heimatliche Assoziationen:

Alte Nationalgalerie - Bild

Das kennt der Ruhri: Abstich bei Hoesch. Oder naja, vielleicht auch nicht. Aber Kunst ist halt das, was der Betrachter in ihr sieht.

Im ersten Stockwerk dann die Überraschung: Auch mir wurde eine Skulptur gewidmet.

Alte Nationalgalerie - Skulptur

Frau Nessy an einem Sonntagmorgen

Wenn Sie sich nun fragen: Das kann doch nicht alles gewesen sein? Was hat sie denn in der Zwischenzeit gemacht? Da bin ich Ihren zahlreichen Restaurantempfehlungen nachgegangen und habe gegessen. Dazu später mehr.

Genächtigt habe ich übrigens hier: Winterfeldt10.

Zwei picklige Jäuster in der U-Bahn:

J_I: Bistu eigentlich jetzt mit Celina zusammen?
J_II:  Bin ich, Alta. Seit Samstag.
J_I: Is voll das herbe Weib, Glückwunsch, ey.
J_II: Ja, aber sch’ab’n Problem, Alta.
J_ I: Was für’n Problem?
J_II: Sch’ab voll Angst, dass die fett wird. Die is jetzt schon so schwabbel in der Mitte. Also nich‘ fett, aber auch nich‘ so voll flach. Und alle in ihrer Familie sind fett.
J_I: Das würd‘ mich voll nich‘ angeilen, wenn ich so ’ne Speckbarbie hätte.
J_II: Eben, Alta. Und’sch weiß nich‘, was ich machen soll.
J_I: Willstu Schluss machen?
J_II: Das ist genau mein Problem, Alta. Sie is‘ ja noch nicht fett, aber sie könnte fett werden, weißtu, wegen Gene und so. Sie wird ganz sicher fett, und darauf hab’sch kein Bock.
J_I: Voll schwer.
J_II: Kannste ja ma‘ drüber nachdenken.
J_I: Mach ich, Alta.

Neben der Sporthalle hat ein neues Restaurant eröffnet.

Ein griechisches. Das Schild hat eine geschwungene Schrift, aber den Namen habe ich vergessen. Er ist auch egal. Denn bei uns Handballhühner heißt der Laden schon jetzt „Mama Souvlaki“ – nach der Besitzerin.

Mama Souvlaki ist eine kleine, korpulente Frau in den Vierzigern mit langem, gelbblond gefärbtem Haar. Sie hüpft durch den Laden wie ein Flummi, ist bei den Gästen, hinter der Theke und wieder bei den Gästen. Sie lacht immerzu, ist eine dicke Sonne inmitten antiker Statuen und blau-weißer Servietten. Schon vor dem Essen gibt es den ersten Ouzo aufs Haus.

„Seid ihr das Sport-Team?“ fragt Mama Souvlaki und setzt sich zu uns.
Wir bejahen.
„Spielt ihr dort in der Halle?“ fragt sie und deutet in Richtung Theke.
Wir bejahen.
Sie gibt uns noch einen Ouzo aus. „Ist gesund für Sportler“, sagt sie.

Wir essen Fleisch- und Salatberge. Als wir bezahlen möchten, kommt sie zu uns, wieder mit einem Tablett Ouzo. Wir sind inzwischen schon ein bisschen betrunken. Sie erzählt von ihrem Onkel, der auch ein griechisches Restaurant hat. Dort hat sie bislang gearbeitet. Aber jetzt sei es an der Zeit, etwas Eigenes zu starten. Sie winkt einen kleinen, dünnen Mann herbei.

„Das ist Stavros, mein Mann“, stellt sie ihn vor. Papa Souvlaki nickt und lächelt in die Runde. „Stavros“, sagt sie zu ihrem Mann, „das ist die Handballmannschaft von der Sporthalle drüben.“ Stavros nickt und lächelt.

Sie hebt ein Pinnchen mit Ouzo, sagt „Jamas!“, und wir trinken. Im Aufstehen sagt sie: „Wenn ihr gutes Essen nach dem Spiel braucht, kommt zu mir. Wenn ihr guten Ouzo braucht, kommt zu mir. Wenn ihr neue Trikots braucht, kommt zu mir. Dann essen wir und trinken wir und sprechen wir.“

Wir mögen Mama Souvlaki.

Die ersten Bücher des Jahres 2012:

Fuchsberger, Kanger, Kehlmann, Mazzantini

Joachim Fuchsberger. Altwerden ist nichts für Feiglinge.
Ich hatte eine tiefschürfende Betrachtung des Lebens erwartet – Weisheiten eines alten Mannes. Stattdessen beschränkt sich Fuchsberger auf seichtes Geplauder über Beschwernisse des Alters, Stationen seiner Karriere und Episoden aus seinem Leben. Das Lesen ist unterhaltsam, aber neue Erkenntnisse gewinnt man nicht.

Thomas Kanger. Der Geheimnisträger.
Auf dem Rathausplatz in Kopenhagen wird ein Mann ohne Gesicht und Hände gefunden. Seine Identität ist unbekannt. Alles, was Kommissar Vincent Paulen als Anhaltspunkt hat, ist ein Ring mit vier eingravierten Frauennamen. Wenig später wird die kleine Stadt Korsør besetzt. Der Krimi beginnt vielversprechend und ungewöhnlich: Er liefert nämlich erst 100 Seiten Vorgeschichte, in denen verschiedene Personen eingeführt werden. Doch dann krankt er unerwarteterweise an zu wenig Nähe zu den Figuren. Kann man lesen, muss man nicht.

Daniel Kehlmann. Die Vermessung der Welt.
Das Buch ist nicht neu. Ich war bislang allerdings nie dazu gekommen, es zu lesen. Der Roman erzählt das Leben des Mathematiker Carl Friedrich Gauß und des Naturforschers Alexander von Humboldt. Der ironische Tonfall gefällt mir. Aber die Geschichte ist arm an Höhepunkten, so dass sich der Erzählstil abnutzt. Überschätzt.

Margaret Mazzantini. Das schönste Wort der Welt.
Während der Olympischen Winterspiele in Sarajewo lernt Gemma den Dichter Goijko und seinen Freund Diego kennen. Diego und sie verlieben sich ineinander, leben miteinander. Der Wunsch nach einem Kind wächst – und auf dem Balkan beginnt der Krieg. Die Geschichte beginnt verhalten. Mazzantini erzählt sehr episch. Manche Seiten mochte ich gar überblättern, dann wiederum kommen 30, 40 oder 50 Seiten mit intensiven Episoden, die fesseln. Es ist ein Buch, das erst nach dem Lesen Eindruck hinterlässt – und endlich mal eines, das den Krieg im ehemaligen Jugoslawien aufarbeitet. Zu empfehlen.

Die Natur ist die schönste Malerin:

Bänderriss im Farbverlauf

Sie sehen ihr Werk: „Ruptur, blau gepunktet“. Es ist gekennzeichnet durch filigrane, veränderliche Farb- und Weichteilstrukturen – eine metabolische Aggregation von Gesundung und Verfall.

Die humorvolle Anordnung von Einblutungen im Vorderfuß repräsentiert in diesem Opus die Freude am Spiel, die Leichtigkeit des fliegenden Balles, die Freude durchtanzter Nächte mit den Kameradinnen. Die dunkle, braunblau getünchte Beule am Knöchel hingegen zeigt die Beschwernis des Trainings, die Begrenztheit des Körperlichen, die Endlichkeit physischer Schaffenskraft  im Gegensatz zur Independenz des Geistes.

Die dem Werk immanente Veränderlichkeit ist sein zentrales Moment  – und zeigt fernerhin nichts anderes als den zwischen Körper und Geist schwankenden Menschen: der Fuß, ein pars pro toto.

„Ruptur, blau gepunktet“ ist noch bis mindestens Ende des Monats im Ruhrgebiet zu besichtigen. Der Eintritt ist frei. Um Keksspenden wird gebeten.

Es ist Samstag, 13 Uhr und minus acht Grad, als der Reißverschluss meiner Winterjacke kaputt geht. Natürlich: So etwas geschieht nicht im Frühjahr, nicht im Spätherbst. Es passiert bei minus acht Grad und strengem Frost.

Heute morgen war ich deshalb bei Ludmilla. Ludmilla  besitzt im nahe gelegenen russischen Viertel eine Änderungsschneiderei.  Sie ist eine winzige, dünne Frau mit grau-braunem Haar, tief liegenden Augen, einem Nadelkissen, das um ihr Handgelenk schlackert, einer Lesebrille, die an einer Kette um ihren Hals hängt, und einem Maßband, das ihr wie ein Schal im Nacken liegt. Ihr Laden ist eine kleine Kammer und in zwei Reihen mit schwerer Kleidung behangen. Auf einem Stuhl türmen sich die Pelzmäntel sibirischer Mütterchen. Maßbänder und Stecknadeln liegen herum. Zwei Nähmaschinen stehen an den Wänden. Die Luft ist dick und warm.

„Guten Morgen“, sagt Ludmilla. „Was kann ich helfen?“
„Der Reißverschluss meiner Jacke ist kaputt“, sage ich und lege sie auf den Tisch vor Ludmilla.

Natürlich könnte ich mit meiner Jacke in den Outdoorladen gehen, in dem ich sie gekauft habe, doch man kennt das ja: Die Jacke muss zur Reparatur eingeschickt werden, der Kostenvoranschlag motiviert zur Aufnahme eines Kleinkredits. Die Jacke reist erst zum Hersteller nach England, dann zu einem Dienstleister nach China. Im Frühjahr, wenn bereits die Bäume ausschlagen und die Krokusse blühen, kommt sie zu mir zurück – mit dem Vermerk, dass ein Reißverschlusswechsel nicht möglich und der Kauf einer neuen Jacke angeraten sei.

Ludmilla nimmt ihre Lesebrille und setzt sie auf. Sie zieht prüfend den Reißverschlussschieber auf und ab, untersucht die Nähte und Krampen und sagt: „Machen wir doppelte Reißverschluss. Können Sie dann von oben und unten aufschieben. Habe ich in Farbe schwarz. Kostet aber 20 Euro, tut mir leid, weil Reißverschluss ist mit drin in Preis, und Reißverschluss ist immer teuer. Ist morgen fertig, 17 Uhr.“

Am Mittwoch ist mir wieder warm.

Komme ich in einen Haushalt, sehe ich mir sehr gerne die Bücherwand an. Sie verrät Einiges über die Menschen, die dort leben. Es gibt die Freunde der leichten und der schweren Literatur, Krimileser, Liebesromanverschlinger, die Angeber und die wahren Bücherliebhaber. Fantasyromanmöger sind mir suspekt.

Jedem Haushalt aber ist gemein: Er sortiert seine Bücher anders. Herr Buddenbohms Sohn I deshalb schlägt vor:

„Man sortiert die Bücher doch am besten einfach so, dass die Geschichten, die richtig, richtig gruselig sind und besser nicht angefasst werden, wenn es gerade dunkel wird, weil sie nämlich vielleicht Monster anlocken könnten, auf der einen Seite stehen. Dann ist das viel weniger gefährlich, dann nimmt man die nicht aus Versehen mit ins Bett. Und auf der anderen Seite dann eben die ganzen anderen Bücher, die einfach nur schön sind und die man also immer lesen kann, weil da kommen keine Monster oder Gespensters. Das kann man doch leicht verstehen? Und dann müsste man doch gar nicht mehr so lange suchen?“

Ich gehe damit vollkommen konform, denn ich sortiere meine Bücher auch nach den Gefühlen, die sie auslösen. Nein, falsch – zuerst sortiere ich sie nach Genre: die Krimis stehen unten rechts, die historischen Romane oben links und dazwischen die Gegenwartsliteratur. Ganz unten, direkt neben ein paar Fotoalben, verstauben noch die Bücher aus dem Studium.

Innerhalb des Genres aber sortiere ich nach guten und schlechte Gefühlen, nach Freude, Fröhlichkeit, Mattheit und Tristesse. Ein bisschen auch danach, wie mir die Geschichten gefallen haben – was aber nichts mit den Gefühlen zu tun hat, die sie vermitteln. So finde ich jedes Buch problemlos wieder. Besucher allerdings sind aufgeschmissen.

Wie sortieren Sie Ihre Bücher? Nach Inhalt? Nach Alphabet? Nach Farbe?

Neues aus der Nachbarschaft.

Bislang betrieb Franco Gelatti neben dem Ghettonetto ein Eisdiele mit angegliedertem Würstchenstand. Denn „hastu Eis, willstu Wurst, hastu Wurst, willstu Eis“ – so erklärte er mir seine Interpretation von „Eis und Heiß“.

In den vergangenen Wochen hat er umgebaut. Ich dachte, er mache wie jede Eisdiele über die Wintermonate zu und nutze die Zeit, um den Grill baulich besser in die Eistheke zu integrieren. Doch nichts dergleichen: Franco hat das Eiswurstgeschäft komplett fallen gelassen und macht seit gestern in Pizza.

„Kuksdu, Nessy, meine neue Geschäfte! Kommstu rein! Mache ich jetzte Pizza mit meine neue Pizza-Ofen.“

Ich blicke auf die gegenüberliegende, gut gehende Stehpizzeria mit den besten gefüllten Pizzabrötchen, die das Ruhrgebiet je gesehen hat, und frage: „Aber gegenüber gibt es doch schon eine Pizzeria.“

„Aaaaaah“, er macht eine wegwerfende Handbewegung. „Isse keine Konkurrenze. Machte gute Pizza, naturlich, isse okee, aber Francos Pizza isse zusatzlich gemacht mit die Liebe und nicht nur mit die Teig.“

„Und Eis? und Wurst?“

„Aaah, war eine blode Idee von mir, nichte gut. Niemand will essen Eis und Wurst in eine Happs. Aber willst essen Pizza, nur gute Pizza, das iste eine Marktlucke. Das gibte noch nirgendwo.“



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