Ergänzende Worte zu den Piraten
Ein Nachtrag:
Vor zwei Wochen habe ich mit „Liebe Generation meiner Eltern“ einen Nerv getroffen. In den Kommentaren gab es viel Zustimmung. Aber es gab auch Widerspruch. Diesem möchte ich gerne antworten.
Mitglieder meiner Elterngeneration (oder Kommentatoren, die sich dort einordneten) sagten zum Beispiel:
Es gibt auch die Elterngeneration, die das Internet nutzt, ja schon Internet genutzt hat, als ihr noch im Kindergarten wart und die bereits vor euch die Piraten gewählt haben.
Ich drücke mich deshalb mal genauer aus: Wenn ich von meiner Elterngeneration spreche, dann spreche von 60- bis 75-Jährigen. Einige davon nutzen das Internet. Mein Vater zum Beispiel. Meine Mutter wiederum nicht, meine Tanten und Onkel auch nicht. Als die ersten Browser erfunden wurden, war ich ein Teenager. Also erzählt mir nicht, dass ich noch im Kindergarten war, als Ihr schon im Internet gesurft habt.
Aber darum geht es nicht. Ich möchte nicht erklären, warum mein Vater oder meine Tante vielleicht Piraten wählt. Oder mein Opa. Das sollen sie selbst schreiben. Ich möchte nur erklären, warum meine Generation in nennenswerter Zahl Piraten wählt – für alle, die danach fragen. Das hat nämlich wenig bis nichts mit dem Internet zu tun.
Mir wird in den Kommentaren des Beitrags vorgeworfen, dass meine Generation „wie die Made im Speck“ lebte, dass wir „vor lauter imaginären Problemen“ vergäßen, wie gut es uns ginge und dass ich „mit Anfang 30″ meine „Midlife-Crisis früh“ durchlebte. Auch schrieb ein Kommentator:
“Euch, den 25 Jahre später geborenen, kann es ja schon kaum mehr besser gehen, da nützt ja die ganze Anstrengung in der Schule schon nichts mehr.”
Genau hier ist der Kern unseres Unmuts, unserer Wut. Wir müssen nicht hungern, haben eine Wohnung. Aber wir arbeiten dafür, wie Ihr es auch tut oder getan habt. Wir kriegen nichts in den Hintern geschoben. Wir haben hohe Abgaben, zahlen hohe Mieten und haben uns unser Studium selbst finanziert. Alles andere ist Klischee. Aber wir können uns nicht verbessern, egal wie wir strampeln.
Nun, da wir seit zehn oder fünzehn Jahren im Berufsleben stehen und gerne mal ankommen, sesshaft werden, eine Basis haben möchten, erkennen wir, dass nichts sicher ist. Immer noch nicht. Wir haben keine sicheren Arbeitsplätze. Wir leben von Zeitarbeit und Zeitverträgen, von außertariflichen Regelungen, von immer neuen Einstiegsgehältern – nach jedem Jobwechsel, nachdem wieder einmal ein Zeitvertrag ausgelaufen ist, müssen wir uns bewähren. Viele von uns ziehen oft um, der Arbeit hinterher. Das ist kein Spaß. Das kostet Geld. Geld, das wir gerne ansparen würden, für später, für ein Eigenheim, für unsere Kinder, vielleicht auch nur für eine neue Waschmaschine. Aber noch bedeutsamer: Es kostet uns ein soziales Umfeld, einen sich über Jahre entwickelnden Freundeskreis, eine vertrauensvolle Familie um uns herum. Es kostet uns Zeit – die wir in Zügen und auf der Autobahn verbringen, auf dem Weg zum Partner, zu den Eltern, Großeltern und zu Freunden.
Ich sage nicht, dass mich das persönlich betrifft. Deshalb durchlebe ich auch keine Midlife Crisis. Mir geht es gut, ich habe einen tollen Beruf, lebe seit Jahren in derselben Region, bin glücklich. Aber ich sehe es bei meinen Freunden, bei meinen Verwandten, den Cousins und Cousinen, den ehemaligen Klassenkameraden und Mitstudenten. Von denen wohnt kaum einer mehr in unserem Heimatort – und das nicht, weil er nicht möchte. Sondern weil er dort keine Perspektive hat.
Gerne würden wir Kinder bekommen – bekommen sie auch. Aber wenn wir Frauen schwanger werden, wird unser Zeitvertrag nicht verlängert. Wenn wir uns dann eine neue Arbeit suchen, werden wir gefragt, wie es mit der Kinderbetreuung aussieht. Wenn wir einen Kita-Platz brauchen, gibt es keinen. Oder nur einen von 7 bis 15.30 Uhr und nicht vielleicht von 12 bis 17 Uhr, wie wir ihn brauchen könnten in dieser flexiblen Welt. Ein Kita-Platz, bei dem die Erzieher – übrigens auch welche von uns – uns um 15.40 Uhr frustriert maßregeln, weil wir unser Kind zehn Minuten zu spät abholen, weil wir im Feierabendverkehr standen, weil wir nicht früh genug wegkamen, weil wir unseren Job gut machen wollten, weil es verlangt wurde. Unsere Eltern können wir nicht fragen, denn sie wohnen weit weg. Manche sind selbst noch berufstätig, sie sind krank oder schon gestorben – auch das gibt es, sogar gar nicht selten.
Jetzt sagt nicht: Warum bleiben die Frauen dann nicht zu Hause? Haben wir auch getan! Ist das Beste fürs Kind! Und für alle entspannter.
Wer sich das leisten kann: gut. Aber ich kenne nur wenige, trotz guter Ausbildung – und nicht wegen überzogener Ansprüche, dem zweiten Auto oder dem dritten Jahresurlaub. Außerdem sehen wir doch bei Euch, wohin das führt. Ihr, unsere Mütter, habt zwei oder drei oder vier Kinder großgezogen und bekommt heute nur eine Mini-Rente. Oder Ihr seid von unseren Vätern geschieden, und weil Ihr nach Jahrzehnten ohne Berufstätigkeit keine Anstellung über 400 Euro findet, lebt Ihr von ihrem Unterhalt. Ein Gehalt für Zwei – da muss schonmal das Einfamilienhaus dran glauben, in das wir einmal einziehen sollten.
Wie wir es machen, wenn Ihr, unsere Eltern, pflegebedürftig werdet, weiß niemand von uns. Sollen wir zurück in die Heimat ziehen? Oder Euch zu uns holen, Euch entwurzeln? Oder Euch in ein Heim stecken, Euch versorgen lassen, dafür monatlich so viel Geld zahlen, dass wir uns deshalb keinen Kita-Platz mehr für unser Kind leisten können – und uns dabei sorgen, dass Ihr Euch wund liegt, ruhig gestellt, schlecht behandelt werdet? Wir lieben Euch. Wir werden für Euer Wohl in die Verantwortung genommen. Das ist in Ordnung so. Aber wir sind ratlos.
Nein, wir haben keine existentiellen Probleme. Wir haben zu essen und ein Dach über dem Kopf. Wir können sogar in den Urlaub fahren, nichts Dolles, aber immerhin. So wie Ihr damals.
Aber im Gegensatz zu Euch sehen wir keine Perspektive. Keine Möglichkeit des Aufstiegs, des Ankommens. Uns fehlt dieses Gefühl: Fünf Jahre noch, dann sind wir aus dem Gröbsten raus, dann wird alles gut.
Wir haben die Nase voll von der aktuellen Politik, die sich um all diese Belange nicht kümmert. Die ein Betreuungsgeld einführt, das jetzt Familien kriegen, die es sich leisten können, von einem Gehalt zu leben. Oder solche, für die es keinen Kita-Platz gibt oder die ohnehin keine berufliche Perspektive haben.
Überhaupt: Geld. Wir wollen kein Geld für unsere Kinder, keine Herdprämie und kein Gebärhonorar. Wir wollen bezahlbaren Wohnraum, gute Bildung und ein gesellschaftliches, auf den Menschen ausgerichtetes Klima, das es uns erlaubt, uns nicht zu zerreißen, sondern mit Freude zu arbeiten, der Gemeinschaft zu dienen, Werte zu erwirtschaften und mit Liebe und Zuwendung unsere Kinder großzuziehen.
Wir haben die Nase voll davon, dass nur Pfründe gesichert werden. Dass niemand in der Politik sich traut, unser Rentensystem neu zu denken. Wir zahlen gemeinsam mit unseren Arbeitgebern Hunderte von Euros monatlich in die Rentenkasse ein und werden mit Glück gerade einmal das Existenzminimum herausbekommen. Wir zahlen zusätzlich in private Rentenversicherungen, und wissen nicht, ob die Konzerne das Geld nicht verjuxt haben werden, wenn wir 67 oder 70 sind – irgendwo an irgendeiner Börse.
Wir machen uns Sorgen. Wir sind gestresst – und das ist mehr als ein persönlicher Stress, das ist ein kollektives Gefühl. Ein Druck, den Ihr vielleicht auch empfunden habt. Doch Euer „Stellt euch nicht so an!“ hilft uns nicht weiter.
Wegen all dieser Gründe – oder nennt es Befindlichkeiten – muss niemand die Piraten wählen. Aber manche tun es. Aus Protest oder weil sie das Gefühl haben: Das sind welche von uns. Die leben wie wir, die verstehen etwas von unserem Leben, die bewegen noch einmal grundsätzlich etwas – und schrauben nicht nur am Vorhandenen herum.
Das mag ein Trugschluss sein. Aber dann haben wir es wenigstens versucht.