Dieser Winter | Als ich durchs Dorf ging, dachte ich: Dieser Winter ist nicht so schlimm wie die letzten Winter.
Es ist nun schon Mitte Februar, und es scheint, als fehlten diesem Winter die endlosen Tage der Trübnis, das sehnsüchtige Warten auf die ersten Winterlinge, auf die Schneeglöckchen und die Krokusse. Denn ohne, dass ich sie bereits ersehnt habe, sind sie plötzlich da, sogar gleichzeitig: Während am kleinen Sandbach die Schneeglöckchen wie ein Teppich daliegen, bekommen ein paar Meter weiter, im Straßengraben vor der Bahnschranke, schon Krokusse Besuch von Bienen.
Wenn ich sage, dieser Winter sei kürzer als andere Winter, meine ich mit diesem Winter meinen Winter, nicht Ihren Winter und auch nicht den Winter meiner Freunde oder Nachbarn; der mag anders sein. Mein Winter legt eine außerordentliche Geschwindigkeit an den Tag, hat kaum Längen und erstaunlich viele Freuden.
Vielleicht liegt es an den bislang recht umtriebigen Tagen, an den Reisen nach Köln und Karlsruhe, nach Berlin und Niedersachsen – und daran, dass ich zwischen und nach diesen Reisen das Zuhausesein genieße, auch wenn es draußen regnet und der Matsch im Garten steht.
Vielleicht liegt es auch daran, dass es außerordentlich warm ist; daran, dass sich kein kalter, regennasser Wind in die Kleidung drängt, dass er nicht eishagelkalt ins Gesicht prickelt, sondern dass ich zuletzt mit dem Rad in die Stadt fuhr, um Besorgungen zu erledigen, als sei es bereits Mai.
Niedersachsen | A propos Niedersachsen, dort war ich diese Woche – in einem Hotel weitab jedes Bahnhofs. Die schnellste Anfahrt mit dem Zug hätte 4 Stunden 30 gedauert; die letzten dreißig Minuten zu Fuß. Mit dem Auto war ich in eineinhalb Stunden dort, allerdings gestaltete es sich stimmungsvoll. Im Dämmerlicht des niedergehenden Tages führte mich die Navigation über Wirtschaftswege, auf Höfe und vor Weidezäune, während Schneegriesel einsetzte und das Fernlicht des Wagens Hasen jagte. Nach zwei gescheiterten Versuchen, zum Hotel durchzudringen, eine Pferdeweide vor der Motorhaube, schaute ich manuell auf die Karte, suchte mir einen Weg und navigierte selbst. Ich rumpelte über Kopfsteinpflaster an einem Kirchhof vorbei, vorbei an einem Fußballfeld und durch Tannenwald, in dem vergilbte Schilder mir mitteilten, dass ich nun richtig sei, und den Weg zum Hotel wiesen. Ein Reh stand am Wegesrand, ich umfuhr Schlaglöcher. „So beginnen Kriminalromane“, dachte ich. Kurz, nachdem wieder ein Hase den Weg gequert hatte, sah ich Licht durch die Bäume schimmern: das Hotel, die Fenster erleuchtet, auf dem Parkplatz funzelige Laternen. Ich rechnete fest damit, dass am kommenden Morgen einer der Gäste tot sei und es nur einer der übrigen gewesen sein konnte, einschließlich mir selbst. Doch, soweit ich weiß, überlebten alle die Nacht, und es tauchte kein Hercule Poirot auf.
Marktplatz | Der Marktplatz an einem Februarabend. K2, K3 und ich genehmigten uns ein Eis aus der neuen Eisdiele, schleckten es vor der Buchhandlung und betrachteten das Treiben, während wir darauf wartenen, hineingehen zu können. Aber das geht eben nicht mit einem Eis.
Die neue Eisdiele führt nicht nur Vanille und Schokolade, Stracciatella und Nuss, sondern auch Milchschnitteneis, Käsekucheneis und manchmal auch Waldmeister. Die Sorten sind stets andere; das Angebot wandelt sich nach Lust des Betreibers. Waldmeister ist eine Offenbarung; leider gab es die Sorte bislang nur einmal, kurz nach Eröffnung im September – und doch betrete ich die Eisdiele jedesmal in der Hoffnung, dass heute der Tag ist, an dem es wieder Waldmeister gibt.
Gelesen | Rónán Hession: Leonard und Paul, übersetzt von Andrea O’Brien. Es ist die Geschichte von Leonard und Paul, introvertierte Männer mit Beharrungsvermögen im Hotel Mama. Während Leonard immerhin einem Beruf nachgeht – er ist Ghostwriter für Kinderenzyklopädien -, verdingt sich Paul lediglich zwei Tage pro Monat als Aushilfspostbote. Das Buch wird beworben mit dem Worten: „Eine hinreißend charmante Lektüre, die nachdrücklich vor Augen führt, wie bereichernd es sein kann, sich auf den Nebenstraßen des Lebens zu bewegen.“ Auf den ersten Kilometern ist die Geschichte tatsächlich charmant; es macht Freude, Paul und Leonard kennenzulernen. Da allerdings auf den Nebenstraßen des Lebens wenig Verkehr ist, wird es nach der Hälfte der Strecke dramaturgisch dünn.
Familienfeier mit Bingo | Irgendwann später, wenn ich im Seniorenheim Zur Goldenen Abendsonne im Gemeinschaftsraum sitze, werde ich vorbereitet sein – vobrereitet auf Bingo-Abende.
Dann werde ich mein Bingo-Gehirn einschalten: den wohligen Zustand zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen dem aufwühlenden Hoffen auf die letzte passende Zahl, die nötig ist für einen triumphalen „Bingo!“-Ruf, und dem unbeschwerten Fallenlassen in die Situation, die allenfalls drei Gehirnzellen benötigt, um bewältigt zu werden.
Ich mag solche Aktivitäten, die einerseits kaum Geistesleistung benötigen, andererseits aber doch so viel Aufmerksamkeit fordern, dass ich an nichts andere denken kann. Außer an: N31. B25. G57. Neben Bingo gehört auch Puzzeln dazu; beim Puzzeln werden meine Hirnwellen lange, ruhige Schwünge. Dann denke ich nur Dinge wie: „Ein rotes Teil mit gelber Spitze. Das muss doch irgendwo sein. Ein rotes Teil … ah, da! … Nee, doch nicht.“
Bingo hat zwei Seiten: die des Teilnehmenden und die der Lottofee. Die Älteren von uns erinnern sich noch an Karin Tietze-Ludwig, die Dame mit dem goldenen Haar, die von den Wirtschaftswunderjahren bis zum Ende des Jahrtausends vor einer Maschine stand, die Kugeln rührte und dramatisch langsam ausspuckte – Kugeln, auf denen Zahlen standen, die Karin Tietze-Ludwig dann verlas, samstäglich zwischen sportschau und tagesschau.
Nachdem alle Kinder dran waren, durfte ich auch einmal die Maschine drehen und die Zahlen verlesen. Ich fühlte mich sehr karintietzeludwigig – und gleichzeitig gut vorbereitet für die Goldene Abendsonne.
Schweine | „Dum spiro spero“, sagte einst Cicero: Solange ich atme, hoffe ich. Und so hoffen sie, die Schweine, jeden Tag – auf Gemüse und Erbsenflocken, auf noch eine Erbsenflocke und auf Löwenzahn, der alsbald wieder ihr Lebens verschönern wird.
Gelesen | Letzte Male, erste Male
Gelesen | Müssen Jugendliche besser lesen lernen? – Eine kritische Bemerkung zu einer populären Forderung
Die entscheidende Frage ist, wie ein gutes Leben ohne die Lektüre schriftlicher Texte aussehen kann; wie gute Bildung gestaltet werden kann, wenn Jugendliche zuhause teilweise nicht mehr lesen; wie wir Werte verhandeln können, wenn wichtige Debatten auf audio-visuellen Plattformen stattfinden und nicht mittels gedruckter Texte geführt werden.
Vielleicht müssen also Jugendliche gar nicht mehr oder besser lesen, sondern wir müssen Wege finden, damit umzugehen, dass einige es nicht tun und trotzdem gebildete, gute Menschen sind.
Ich tue mich schwer mit dem Gedanken, dass es eine Welt ohne das gedruckte Wort geben soll: ohne die Bücher mit ihren Geschichten, deren Bilder nicht von anderen gefilmt wurden, sondern im eigenen Kopf entstehen; ohne die Reportagen und Features, die Dossiertexte und Magazingeschichten, die uns einen Blick in die Welt Anderer anbieten, eine Welt, in die wir uns Wort für Wort vortasten – und dadurch nicht nur konsumieren, sondern selbst durchdenken. Außerdem:
Die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben ist die Voraussetzung für die Analyse von komplexen Problemen und für einen Strom von Ideen und kritischem Denken. Sie ermöglicht eine sachlich fundierte öffentliche Debatte und eine sinnvolle kollektive Entscheidungsfindung. Je besser Individuen im Lesen geschult sind, umso besser können sie öffentliche Angelegenheiten kontrollieren und zu einer wirklich demokratischen Regierung beitragen.
José Moraís vom belgischen Center for Reasearch in Cognition and Neurosciences, in einem Beitrag der Max-Planck-Gesellschaft
Und sonst | Im Garten schlägt das Vogelfutter aus.
Kommentare
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Liebe Frau Nessy,
ich danke von Herzen für den Begriff „karintietzeludwigig“!!! ;]
Und für das Cicero-Zitat. und überhaupt. Für Ihre Schreibe!
Herzliche Grüße! S.
Sehr gerne! Ich freue mich, wenn Sie sich freuen.
Da hätte ich doch fast den Tab geschlossen, nachdem das Schweinchenbild auftauchte – „das Ende“ erwartend, um dann zu sehen, dass es noch nicht Ende was.
Entgegen alter Gewohnheit ;-)
Gruß
AlCiD
Ich verstehe das Problem und werde es beim nächsten Beitrag einer Lösung zuführen.