Der Morgen vor Heiligabend | Ich erwache früh, nicht freiwillig. Aber heute ist kein Tag für die Schlummerfunktion, heute ist der 23. Dezember, ein Samstag, der Tag des letzten Frischwareneinkaufs vor drei Feiertagen.
Gestern habe ich großmütig verkündet: „Ich erledige das.“ Doch nun, im warmen Bett, fühle ich mich wie vor einem Bungee-Sprung. Eigentlich möchte ich nicht. Aber ich komme aus der Nummer nicht mehr raus. Vor meinem inneren Auge sehe ich vorwurfsvoll dreinblickende Senioren vor leeren Fonduetöpfen sitzen, im Hintergrund Lichterglanz. Nein, ein Rückzug kommt nicht infrage.
Es ist 7:45 Uhr, als ich das Haus verlasse. Um 8 Uhr öffnet der Supermarkt. An der Kreuzung ist die Ampel rot. Alle zehn Autos vor mir blinken rechts. Ich blinke auch rechts. Als militärische Kolonne biegen wir auf den Parkplatz des Supermarktes ein, der bereits zu sechzig Prozent gefüllt ist. Menschen streben auf den Eingang zu. Um den Brathähnchenwagen herum teilt sich der Kundenstrom, vor der Automatiktür fließt er wieder zusammen.
In einem synchronen Ballett parken wir, öffnen unsere die Fahrertüren, steigen aus und schlagen die Türen zu. Autos verschließen sich piepend. Mit zügigen Bewegungen ziehen wir Einkaufswagen aus den Unterständen. Wir sind viele, und wir sind entschlossen.
Als erstes das Gemüse. An Heiligabend gibt es Fondue, immer schon. Früher nur Fleisch, jetzt auch Gemüse. Ich greife nach dem Blumenkohl. Es ist ein auffallend kleiner Kopf, geradezu niedlich. Ich will ihn schon in den Wagen heben, da fällt mein Blick aufs Preisschild. Vier Neunundneunzig steht da, und darüber steht tatsächlich „Blumenkohl“, obwohl die Zahl und das Wort nicht zusammenpassen. Fünf Euro für einen Blumenkohl in der Größe eines Kinderhandballs. „Dank einem reduzierten Gewicht von unter 260 Gramm und einem Umfang von 46 bis 48 Zentimetern können Kinder sie besser fangen und werfen„, aber wir wollen ihn ja nicht werfen, sondern wir wollen davon satt werden. Ich lasse den Kohl fallen.
Ich strebe zu den Molkereiprodukten. Dort, wo sie im rechten Winkel mit den Wurstwaren zusammentreffen, sammelt sich eine Menschentraube. Als ich näherkomme, erkenne ich: Das ist das Ende der Frischfleischschlange, wobei die Fleischtheke nur als dünner Strich am Horizont zu erkennen ist. Ein Mann in rotem Pullunder, mit erhitzten Wangen und zerknittertem Einkaufszettel springt heran. „Sind Sie Fleisch oder Wurst?“, fragt er die Dame vor mir. „Ich bin Wurst“, sagt sie. Er wendet sich mir zu. „Und Sie?“ Ich muss kurz überlegen: „Ich, äh, bin Fleisch.“ – „Dann sind wir hier falsch. Kommen Sie mit!“, und raunt mir zu: „Ich kenne eine Abkürzung!“ Wir schlängeln uns um den Stand mit Hartwurst und Bifi herum, drehen einen Schlenker um die Grillsaucen und erreichen das Ende einer bis dato nicht sichtbaren zweiten Schlange. Eine Frau in einer wattierten Steppweste bildet ihren Abschluss; sie wiegt einen Camembert in der Hand, riecht an ihm und legt ihn zurück in eine Kühltheke. „Hier sind wir richtig“, sagt der Pullunder-Mann. Über uns prangt ein Schild mit einem Pfeil. Er zeigt auf uns. Über dem Pfeil steht „Fleisch“. „Habe ich gestern schon erkundet. Sieht man von hinten nicht“, sagt er, und in seiner Stimme schwingt Stolz mit.
Ich entscheide mich für Biofleisch. Als ich die Tüten entgegennehme und auf das Preisschild schaue, denke ich: Nun kann ich auch noch einen Blumenkohl kaufen. Aber auf dem Einkaufszettel stehen noch Datteln, und nach den Datteln sind meine Spendierhosen wieder enger. Jetzt nur noch Grillsaucen. Die habe ich vorhin schonmal gesehen.
Vor den Grillsaucen steht ein Mann mittleren Alters, die Haare wirr und schütter, im Gesicht ein Dreitagebart. Er ist eindeutig aus dem Bett gefallen – oder gescheucht worden. Seine Brille hatte er in die Stirnfalten geklemmt, sein Blick geht auf seine Hände, die er zu Fäusten geballt hat. Er streckt den Daumen vor, dann den Zeigefinger, den Mittelfinger, bis alle Finger ausgeklappt sind. Dann nimmt er die zweite Hand hinzu, schaut nachdenklich in die Luft, schüttelt den Kopf und beginnt noch einmal von vorne. Seine Brille fällt ihm auf den Nasenrücken, schief bleibt sie darauf liegen. Wie viele Bockwürste braucht er für wie viele Gäste? Wie viele Leute kommen überhaupt?
Die Kassen sind gut besetzt. Überhaupt: Alle Arbeitsplätze sind heute besetzt. Überall huschen dienstbare Angestellte herum, räumen Regale ein, verkaufen Wurst, Käse und Fleisch, kassieren und weisen den Weg zu Klößen, Rotkohl und Rinderfond. Junge Menschen mit Pickeln auf den Wangen schieben Wagen mit Waren, alte Menschen mit Haarkränzen verräumen – es ist, als haben sie Mann und Maus, Schüler und Rentner mobil gemacht, um diesen Tag zu überstehen.
„Danke, dass Sie heute arbeiten“, sage ich der Kassiererin, als ich einpacke. Sie antwortet: „Das ist doch mein Job.“ – „Aber manchmal ist er schwieriger als an anderen Tagen.“ – „Das stimmt“, sagt sie. Wir wünschen uns frohe Weihnachten. Ich gehe hinaus auf den Parkplatz. Es hat wieder zu regnen begonnen. „Mission completed„, schreibe ich dem Reiseleiter. Er antwortet: „Dann mache ich jetzt Frühstück.“ Weihnachten kann beginnen.
Der weitere Tag vor Heiligabend | Nach dem Einkaufen gliedert sich der Tag in diverse Aufgaben, die noch zu erledigen sind. Aus Gründen der Übersicht sowie aus pädagogisch-motivatorischen Erwägungen schreibe ich sie auf eine Checkliste und hänge sie in die Küche.
Die Maßnahme verfehlt ihre Wirkung nicht. In Checker-Tobi-Manier rufen die Kinder: „Gecheckt!“, wenn eine Sache erledigt ist und machen einen Haken ins Kästchen. Am Nachmittag steht der Baum, die letzten Geschenke sind besorgt, die Schweine haben einen frisch gefegten Stall, und die Schokocrossies trocknen. Wir sitzen neben dem aufgerüschten Baum und sind bereit für „Kevin allein zu Haus.“
Der Heiligabend | Den Abend verbringen wir mit Fondue, mit Fleisch und Datteldip, Brokkoli, Pilzen, Pak Choi und Kohlrabi, aber ohne Blumenkohl. Wir sitzen in der Küche, auf dem Tisch dampfen zwei Töpfe mit Brühe, das Licht ist gedimmt, Kerzen brennen, Weihnachtsmusik spielt. Das Wesen des Fondue ist es – ähnlich wie beim Raclette -, dass man Ewigkeiten zusammensitzt, während man der Sättigung immer ein kleines Stückchen näher kommt, bis sie plötzlich einsetzt und direkt in eine leichte Übelkeit umschlägt.
Bis dahin tunken wir unsere Spieße in die Brühe, und die Veranstaltung wäre nur halb so unterhaltsam, wenn alles am Spieß bliebe, was aufgespießt wurde.
„Ich habe meinen Brokkoli verloren!“
„Aber das ist doch gar nicht dein Spieß.“
„Ist er nicht?“
„Deiner ist gelb.“
„Nein, Gelb bin ich!“
„Wem gehört denn dann der Brokkoli?“
„Mein Fleisch ist weg.“
„Ich hole mal einen Löffel.“
„Was ist das denn hier?“
„Ach, das gehört mir!“
„Ich habe einen Pilz gefunden.“
„Wir haben Pilze?“
„Wieso hast du vier Spieße bei dir liegen? Wir haben doch jeder nur zwei.“
„Oh.“
„Noch jemand Brot?“
„Also, ich hätte jetzt schon gerne Blumenkohl!“
Später am Abend kommt die große Stunde des Reiseleiters. Seit dem Sommer nimmt er Gitarrenunterricht. Seither ziehen wir ihn damit auf, dass wir unterm Tannenbaum eine künstlerische Darbietung erwarten, das sei das Mindeste, was er nach Monaten des Übens bieten müsse. Nach Fondue und Champagner packt er also die Klampfe aus, und nicht nur das: Er verteilt auch Liedzettel und verkündet, er spiele nur, wenn wir auch sängen. Er gibt die ersten Akkorde von „Feliz Navidad“ zum Besten. Ich blicke auf den Zettel: Der Text ist überschaubar, den können wir auch nach zwei gut gefüllten Sektflöten intonieren.
Es ist unterhaltsamer als erwartet. Wir singen neben dem Takt, der Reiseleiter verhaspelt sich etwas, wir improvisieren die im Text geforderte „Dance Break“, finden wieder zueinander und sind am Ende erschöpft, aber doch zufrieden mit uns. Darauf noch ein Gläschen! Und Geschenke.
Die weiteren Weihnachtstage | Die weiteren Weihnachtstage verlaufen ebenfalls heiter. Wir verbringen sie im Sauerland und in Recklinghausen, essen Suppe und Klöße, Kuchen und Rotkohl, Herrencreme und Rouladen, vegan und unvegan. Am Zweiten Weihnachtstag rudere ich durchs Obergeschoss, um mir etwas Bewegung zu verschaffen. Draußen regnet es ununterbrochen. Gut, dass wir das Ergometer haben, sonst wäre das alles nicht zu verkraften.
Dänisch | Der Reiseleiter lernt nicht nur Gitarre, er lernt auch Dänisch. Denn im Sommer planen wir eine erneute Fahrradreise durch Dänemark, diesmal mit den Kindern. Der Reiseleiter hat die Route bereits geplant und alle Unterkünfte gebucht. Damit er seiner Funktion noch besser nachkommen kann, eignet er sich mittels einer App die Landessprache an.
Als wir am Ersten Weihnachtstag ins Sauerland fahren, treffen wir in Olfen-Vinnum ungewöhnlich früh auf die Lippe. Sie hat ihr Bett verlassen und breitet sich über die angrenzenden Felder aus. Neben dem Lippe-See hat sich ein Fischreiher postiert und wittert auf Mäuse und Molche, Frösche und Fische.
„Guck mal“, sage ich zum Reiseleiter. „Ein Reiher.“ – „De fleste hejrer lever tæt på vandet“, antwortet er sehr ernst, den Blick auf die Straße gerichtet, denn er fährt das Auto. „Die meisten Reiher leben in der Nähe von Gewässern.“
Ich denke, wir werden gut zurechtkommen in Dänemark. Vor allem, was Reiherdinge angeht.
Geguckt | Die Hunderjährigen – Was macht ein langes Leben aus? Eine Vorbereitung auf später: Ich plane ja, 106 zu werden. Die Zahl habe ich mir ausgesucht. Familiär bedingt ist hohes Alter sowohl von mütterlicher als auch auf väterlicher Seite aus möglich, alle Alten wurden richtig alt. Ein früheres Versterben als mit Ü100 weise ich deshalb strikt von mir.
Schweine | Die Schweine bekamen auch Brokkoli. Sie stehen auf Brokkoli.
Kommentare
12 Antworten: Bestellung aufgeben ⇓
:-)
Danke für die gute Unterhaltung. Wie nicht anders zu erwarten, auch 2023 wieder ein Genuss.
Und nun zum Endspurt -> Guten Rutsch!
Gut gerutscht, keine Klagen! Alles Gute für 2024!
Das klingt wie ein rundherum gelungenes Fest und ein bisschen Stress vorher muss ja.
In diesem Jahr verschicke ich keine guten Neujahrswünsche, ich denke es wird Zeit, dass wir selbst die Verantwortung übernehmen. Deshalb wünsche ich dem neuen Jahr, dass wir Menschen endlich wieder zur Besinnung kommen und einander friedlicher und verständnisvoller begegnen. In diesem Sinne – Auf 2024!
Ich versuche das ja im Kleinen, die Sache mit der friedvollereren und verständnisvolleren Begegnung. Oft klappt es, manchmal nicht. Ich bemühe mich.
Ihnen ein gutes 2024!
Herrlich! Genauso schlängelten sich die Schlangen (ja nu…) über Parkplätze und durch die Geschäfte!
Auch hier der Blumenkohlschock…..
Und der Satz „am 2.Weihnachtstag ruderte ich durchs Obergeschoss“ bekommt dieser Tage doch noch eine ganz andere Bedeutung…
Danke für dieses Jahr mit der Teilhabe an so Vielem, vor allem Danke für zahlreiche Schweinebilder! Hohe Entzückung immer wieder ♡
Liebste Grüsse, einen guten Rutsch und einen gesunden Start ins neue Jahr!
(Dänisch: in meinem Ohr eine der besten Sprachen ;-))
Sandra aus D
Der Reiseleiter war nach dem Weihnachtsfest einkaufen. Er brachte einen Blumenkohl mit – weil er nur 1,49 € kostete.
Ihnen auch alles Gute für 2024!
Habe mich köstlich amüsiert, wünsche schöne Tage und guten Rutsch in ein hoffentlich friedlicheres Jahr 2024.
Grüß Gott aus MUC.
Dankeschön! Ebenso!
Liebe Frau Nessy,
herzlichen Dank für Ihren feinen Blog! Ihnen und Ihrer Familie morgen einen guten Rutsch und alles Gute für das nächste Jahr!
Wie herrlich, dass Sie so alt werden wollen- ich hoffe noch auf viele Jahre des Qualitätsbloglesens! ;] :]
Viele Grüße! S
Falls ich so alt werde, werde ich irgendwann aus dem Pflegeheim bloggen. Dann kriege ich Hausverbot, und irgendeiner von Ihnen muss mir Obdach geben. So wird es kommen.
Ihnen auch alles Gute zum neuen Jahr!
Ich mag Ihren Blog so sehr!!! Informativ, breite Vielfalt, lustig und ach überhaupt!!! :-))
Wie oft habe ich ein breites Grinsen im Gesicht…
Ich hoffe Sie haben die letzten Tage noch gut hinter sich gebracht und rutschen nun gut hinüber ins Neue Jahr!
Dieses soll Ihnen viel Positives mit sich bringen.
Herzlichst
Ilona
Dankeschön! Das wünsche ich Ihnen ebenso!