Die Anreise | „Dafür, dass wir eben so schnell waren, sind wir jetzt ganz schön langsam“, sage ich, als wir auf freie Strecke stehen, und es nicht weitergeht.
Eine halbe Stunde zuvor, auf dem Weg nach Lüdinghausen, wir fahren gerade an einem Maisfeld vorbei und die Sonne kommt heraus, frage ich: „Wann fährt der Zug?“ – „Halb“, antwortet der Reiseleiter. Ich sehe auf die Uhr. „Das wird aber knapp“, sage ich, „dann haben wir nur noch eine Viertelstunde.“ – „Das wird knapp“, sagt der Reiseleiter. Synchron schalten wir auf ein größeres Ritzel und geben Hackengas. Genau fünfzehn Minuten später fahren wir mit quietschenden Reifen direkt auf den Bahnsteig und in die geöffneten Türen des Zuges.
Im Zug | Ein Mädchen mit wilden, blonden Locken trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Find your inner Minion“. Eine Frau, die Blondierung herausgewachsen, knallroter Nagellack, schiebt vier goldene, kühlschrankgroße Hartschalenkoffer in den Zug, am Griff Flugetiketten. Zwei Niederländer, ebenfalls mit Fahrrädern unterwegs und routiniert organisiert, blicken während der Fahrt stumm aus dem Fenster. Eine Herrengruppe in Schalke-Trikots trinkt mit erstaunlicher Zielstrebigkeit Sixpacks; bei einem längeren Halt in Coesfeld steigen sie aus und pinkeln gruppendynamisch gegen einen Schmetterlingsflieder.
Angekommen in Gronau lobt ein Mann, zwei Meter groß, Bartschatten, Typ Kuschelbär, mein Fahrrad. Er liebe tolle Fahrräder, sagt er , er komme aus Dortmund, vier seien ihm schon geklaut worden. Ich sage, dass ich auch aus Dortmund komme. „Dann treffe ich doch dort vielleicht mal, Inshallah. Ich kann tolles Essen kochen.“ In dem Moment schiebt sich der Reiseleiter hinter einem Wagenstandsanzeiger hervor. „Dein Freund?“, fragt der Bär. In seinen Augen erlischt ein Leuchten. Doch dann erwacht Kampfgeist. Er zeigt auf den Reiseleiter. „Kann der kochen?“ Ich nicke. Der Bär streckt seine Brust vor. „Aber ich kann besser kochen.“
Geschmeidigkeit | Fahrradfahren in den Niederlanden unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt vom Fahrradfahren in Deutschland: Man bangt nicht um sein Leben.
Als wir die Grenze überqueren, ist der Radweg plötzlich betoniert, glatt betoniert, ohne Wurzelwerk und Hindernisse, breit und auslandend, und er führt immer weiter: durch Felder und Wiesen, Landstraßen entlang, durch Kreisverkehre, mit Richtungs- und Fahrbahnwechseln. Es gibt Ampeln für Fahrräder, Beleuchtung und Pfosten, an denen man sich festhalten kann, ohne abzusteigen. Alles ist so durchdacht, die Fahrt so geschmeidig, man möchte weinen.
Als wir nach Deventer hineinfahren, aus dem Vorort in die Innenstadt, haben wir eine grüne Welle. Auf dem Rückweg entdecken wir, warum: Jeweils 30 Meter vor der Kreuzung fahren wir über einen Anforderungskontakt. Die Autos müssen halten, und wir haben freien Weg. Es ist fantastisch.
Flüsse und Hügel | Gibt es einen Berg, neigen die Niederländer dazu, direkt ein Naturschutzgebiet drumherum zu legen, hier wie dort. Kilometer um Kilometer fährt man durch Heide, Wald und Ginster, vorbei an Birken, Eichen und Kiefern. Der Boden ist sandig. Es geht auf und ab, aber eben auch bergauf. Man wundert sich, schließlich sollte hier doch alles flach sein, so erwartet man das.
Zweimal kreuzen wir auf kleinen Fähren die Ijssel, Fußgänger zahlen einen Euro, mit Fahrrad einszehn. Wir kommen an einen Badesee. Am Natuurzwemmen Lathumse plas springen wir ins Wasser. Das Ufer fällt sofort steil ab. Am Ufer flirrt die Hitze, das Wasser ist schön kalt.
Auf dem Weg gibt es Cafés. Nicht so viele, wie man sich wünschen würde, aber ausreichend. Ein Lokal trägt den Namen „Bike & Eat“ , mein Motto. Wir trinken alkoholfreies Bier, der Elektrolyte wegen.
Die Rückreise | Die Strecke von Emmerich zurück nach Haltern könnte schön sein – gäbe es mehr Züge. Doch zwei Verbindungen fallen aus, andere verspäten sich; einige Linien werden bis September gar nicht bedient, sie sind komplett aus dem Programm genommen: Personalmangel. So schlagen wir uns durch, gemeinsam mit hunderten anderen. Es ist bummsvoll in den Zügen. Handys plärren, Hunde bellen. Das Mitführen von Gepäck, Kinderwagen, Fahrrädern, Rollstühlen oder Rollatoren ist nicht vorgesehen, schon gar nicht zum gleichen Zeitpunkt. Man arrangiert sich und möchte danach in Sterilium baden: Es hat sich noch nicht herumgesprochen, dass man zum Sprechen und Husten die Maske auflässt – wenn man denn eine trägt. Eine Haltung christlicher Nächstenliebe ist gefragt: Um diese Fahrt zu genießen, muss man Menschen mögen wollen.
Es stellt sich heraus, dass Oberhausen einen gar nicht mal so schönen Bahnhof hat. Die Getränkeautomaten sind leer, auf dem Nachbargleis kollabiert eine Frau; Menschen helfen. Der Kiosk in der Unterführung hat noch kalte Cola vorrätig, immerhin. Auch Gelsenkirchen ist nicht hübsch; doch von hier fährt der Regionalexpress – und er fährt tatsächlich, sogar fast leer. Nur weg.
Zu Hause, nach einer kalten Dusche und einem noch kälteren Radler, geht’s dann schon wieder. Der Reiseleiter erwärmt eine Pizza. Bike & Eat.
Serviceblog | Etappen:
Von Haltern nach Lüdinghausen, circa 10 Kilometer. Von Lüdinghausen mit dem Zug nach Gronau. Von Gronau über Losser nach De Lutte, circa 20 Kilometer
Von De Lutte nach Deventer über Oldenzaal, Borne, Bornerbroek, Enter, Rijssen, Nationaal Park de Sallandse Heuvelrug, Okkenbroek und Lettele, circa 70 Kilometer
Von Deventer nach Emmerich über Epse, Gorssel, Klaerenbeek, Loenen, Nationaal Park Veluweezoom, Rheden, Lathum, Zevenaar und Elten, circa 70 Kilometer. Von Elten mit diversen Zügen, wie gerade verfügbar, nach Haltern. Von dort raus aufs Dorf, nochmal 10 Kilometer.
Uns Uwe | „Wir sind noch im Spiel, Digga.“ – „Ja, noch sind wir im Spiel.“
Kommentare
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Danke für den Reisebericht.
Zum Thema Regionalverkehr hier ein aktueller Artikel aus dem gestrigen Tagesspiegel (sorry , Plusartikel). Hat mich sehr nachdenklich gemacht, wie eine an sich gute Idee wegen fehlender Infrastruktur und dünner Personaldecke eben jenem Personal den Job so richtig verhagelt. Schade. https://plus.tagesspiegel.de/gesellschaft/beschimpft-bespuckt-geschlagen-was-mitarbeiter-der-deutschen-bahn-ertragen-6197302.html
Nun, es waren auch Menschen unterwegs, die, sagen wir mal, noch Potential haben, was rücksichtsvolles Verhalten im öffentlichen Raum angeht. Ich kann mir gut vorstellen, dass es mitunter heiß her geht, besonders in den Großstädten.
Gemessen an den Umständen muss ich allerdings sagen, dass sich alle aufs Beste arrangierten. Man versuchte, den anderen Reisenden die eigene Anwesenheit so angenehm wie möglich zu machen (nur die Sache mit den Masken scheint nicht mehr verinnerlicht).
Ich habe auch Verständnis, wenn man nach zwei ausgefallenen Zügen, das Kleinkind im Kinderwagen, man selbst mit den Nerven am Anschlag, bei 33 Grad irgendwann nicht mehr ganz so freundlich ist, wenn sich jemand einfach auf den Platz setzt, der für Kinderwagen vorgesehen ist – und dann noch patzig wird.
Zugbegleiter habe ich nur wahrgenommen, als sie über das 9-Euro-Ticket klagten. Dabei war es eindeutig nicht der Grund für die Zustände, sondern die marode Infrastruktur und der Personalmangel. Wären alle Züge gefahren, wie sie sollten, hätte sich das reisende Volk bestens verteilt. Das Problem scheint mir – abgesehen von den üblichen Leuten, die sich nirgendwo benehmen – stark in der Struktur zu liegen.
Habt Ihr nach Knotenpunkten navigiert? Das System schwappt seit einigen Jahren auch nach DE hinein, große Teile des Niederrheins haben es schon und ich wünsche mit sehr, dass sich das weiter ausbreitet.
Tatsächlich nicht…ich plane die Routen immer per Komoot. Das Knotenpunktsystem kenne ich und ich fand es bei früheren Radreisen durch NL auch ganz praktisch – inzwischen – mit den Möglichkeiten, die das Smartphone bietet – halte ich es für überflüssig (also für mich persönlich). Ein früherer Versuch, mit den Knotenpunkten durch Dortmund zu navigieren ist übrigens kläglich gescheitert ¯\_(ツ)_/¯
Ich lese diese Radtouren-Berichte immer sehr gerne. Vielen Dank für die Mühe und die immer wieder auch schönen Fotos! :-)
Ich nutze gleich die Gelegenheit, hier einen Tipp zu hinterlassen, sonst hätte ich es per DM auf Twitter oder Instagram versucht. Sie kommen ja öfter an Bahnhöfen vorbei und vielleicht gibt es an dem ein oder anderen ja auch eine Buchhandlung. Dann könnte es sich lohnen mal nach dem aktuellen Kunstmagazin der Zeit „Weltkunst“ Nr. 202 / August 2022 Ausschau zu halten (auf dem Cover schon einer der Radfahrer des griechischen Malers Alekos Fassianos). Thema des Heftes ist „Tour d’Art“ u.a. mit „Wie das Fahrrad die Kunstwelt inspiriert“ (illustriert mit wunderbaren Kunstwerken rund ums Fahrrad) und „Drei Tage im Ruhrgebiet“ (mit dem Fahrrad den Emscherkunstweg entlang mit Wegerklärung und vielen Tipps zu Unterkünften, Einkehrmöglichkeiten und Museen). Das Einzelheft kostet € 11,80 . Als ich dieser Tage durch’s Heft blätterte, musste ich natürlich an Sie denken, und dachte mir, das geb ich mal weiter, vielleicht interessiert es ja. :-)
Vielen Dank. Das ist auch was für den Reiseleiter.
[…] „Fahrradfahren in den Niederlanden unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt vom Fahrradfahren i…“ […]
Ich möchte anmerken, dass das beim Radfahren „Kette rechts!“ heißt und nicht „Hackengas“. ;-)
Ach! (loriotesk)