Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Intro | Ein langes Wochenende, wie man ein langes Wochenende erfinden würde: ausschlafen, in den Tag hinein leben, im Freibad Bahnen ziehen, Freunde treffen, durch die Heide laufen, Kuchen essen, im Garten liegen, dazu Sonnenschein mit einer leichten Brise.


Freibad | Das Wasser hatte 24 Grad und fühlte sich genau richtig an. Ausreichend kalt, um die Körperkerntemperatur runterzubringen an diesem heißen Tag, ausreichend warm, um Bahnen zu ziehen, solange man noch Bahnen ziehen konnte. Später, am Nachmittag, hat das Schwimmbecken keinen Platz mehr für Schwimmer, ist es nur noch eine Masse wogender Leiber, durchsetzt mit Schwimmflügeln und Poolnudeln.

Es gibt kaum einen Ort, an dem ich zuverlässiger einschlafe als auf einer Freibadwiese. Der Geräuschteppich ist mein Melatonin, eine Melange aus Gemurmel, Gelächter und dem Geschimpfe der Eltern, irgendwo wird ein Ball gebolzt, woanders das helle Klong eines Strandttennisspiels, auf dem Nachbarhandtuch Teenagergespräche. Der Schatten lässt einzelne Sonnenstrahlen durch, der Wind streicht wohlig über die Haut, und schon ist er da, der Schlummer. Ich gleite hinweg in einen gütigen Dämmer.

Zwischendurch erwache ich und beobachte. Nebenan spielen Jungmänner Fußball. Sie geben sich Anweisungen, jeder Pass ist wichtig. Und jeder Pass ist schlecht. „Hurensohn!“, rufen sie. Es wird viel geflucht in der sengenden Sonne vor dem Tor, an dessen Latte sie zwischendurch Klimmzüge machen.

Am Becken ein Ein-Meter-Künstler, ein schlacksiger Kerl in leuchtend organgener Badeshorts. Eineinhalb Salto gehockt bringt er mit einem schnurgeraden Kopfsprung ins Becken. Kein Spritzer trübt das Eintauchen. Die Jungs in der Warteschlange staunen mit offenem Mund, stoßen sich mit dem Ellbogen an. So einer wie der ist weit weg von ihnen, ist eine Ikone.

Mehrmals geht ein Mann vorüber. Seine Badehose schlabbert weit und lang um die Beine. Der Bauch hängt etwas über, der Rücken zeigt Tendenzen einer Behaarung, die erst in den nächsten Jahren zu voller Blüte kommen wird. An der Hand hält er einen kleinen Buben in Schwimmwindel. Darüber, auf dem Unterarm, hat er … Moment, hat er dort tatsächlich einen Toaster tätowiert? Ich richte mich auf. Ein Toaster mit einem Feuerschweif? Ich fühle tiefe Ehrfurcht. Mittelbrauner Toast, noch warm, betrichen mit Schokocreme – wir wissen alle, was so ein Toast kann, was er für die Seele bedeutet.

Ein Pfiff. Der Bademeister ist ein großer Mann in den 60ern, vielleicht auch schon 70ern, braungebrannt, gut trainiert. Ein Mitch Buchannon des Ruhrgebiets. Sicher war er früher Vorarbeiter oder Feldwebel; jedenfalls jemand, der allein durch Körpersprache weiß, wie man sich Respekt verschafft, diesen leisen, hocheffizienten Respekt, den man mit durchgedrücktem Kreuz, vorgerecktem Kinn und hochgezogenen Augenbrauen bekommt – und mit minimalen Bewegungen wie diesem Einrollen des Zeigefingers, mit dem er ein Kerlchen zu sich zitiert, das an Ort und Stelle gefriert, hier in der Sonne bei 32 Grad.

Der Mann mit dem Toaster geht wieder vorbei, und ich sehe, dass es doch kein Toaster ist, sondern eines dieser amerikanischen Mikrofone, in das einst Elvis sang.

Der Reiseleiter zieht los und bringt Freibadpommes mit, das Gottesgeschenk der Bademahlzeiten. Freibadpommes wollen nichts von dir. Freibadpommes geben nur.

Pommes rot weiß auf Freibadwiese

Danach nicke ich wieder ein, gütig umhüllt von Geräuschen, einer sanften Brise und Sonnensprenkeln unter dem großen Baum am Rand der Wiese.


Altern | Wir trafen Freunde, und ich lernte, dass es vor der unausweichlichen Gleitsichtbrille ein Level gibt, das sich Relaxbrille nennt. Mit einer Relaxbrille kann man sich ganz zwanglos daran gewöhnen, einer dieser Menschen zu werden, die in Gegenwart einer Speisekarte ihre Brust- und Hosentaschen abklopfen, die überall im Haus, im Auto, im Sakko und in der Handtasche Fertigbrillen aus der Drogerie haben, und die am Ende doch sagen: „Lies mal vor, ich finde meine Brille gerade nicht.“ Sowohl die Augen als auch die Seele werden an diesen Zustand herangeführt, ganz unverkrampft, denn mit einer Relaxbrille ist man noch nicht alt, man ist nur angespannt. Die Augen benötigen lediglich „situationsgerecht Unterstützung“, eine leichte Stärkezunahme im unteren Glasbereich.


Erste Ernte | Der Garten wirft erste Früchte ab.


Gelesen | Die Wut, die bleibt von Mareike Fallwickl. Klappentext:

Helene, Mutter von drei Kindern, steht beim Abendessen auf, geht zum Balkon und stürzt sich ohne ein Wort in den Tod. Die Familie ist im Schockzustand. Plötzlich fehlt ihnen alles, was sie bisher zusammengehalten hat: Liebe, Fürsorge, Sicherheit.

Helenes beste Freundin Sarah, die ­Helene ­ihrer Familie wegen zugleich beneidet und bemitleidet hat, wird in den Strudel der ­Trauer und des Chaos gezogen. Lola, die ­älteste Tochter von Helene, sucht nach einer ­Möglichkeit, mit ihren Emotionen fertigzuwerden, und konzentriert sich auf das Gefühl, das am stärksten ist: Wut.

Drei Frauen: Die eine entzieht sich dem, was das Leben einer Mutter zumutet. Die anderen beiden, die Tochter und die beste Freundin, müssen Wege finden, diese Lücke zu schließen. Ihre Schicksale verweben sich in diesem bewegenden und kämpferischen Roman darüber, was es heißt, in unserer Gesellschaft Frau zu sein.

Verlagsseite

Es gibt zwei Perspektiven, die sich kapitelweise abwechseln: Sarahs, die in dieselbe Kümmerfalle rutscht wie ihre Freundin Helene und die Mutterrolle übernimmt, und die Perspektive Lolas, die Tochter Helenes. Beide Handlungsstränge tun auf ihre Art weh: Sarahs Verdruckstheit, ihr mangelnder Selbstwert, ihre Orientierung an der Meinung Dritter sind kaum auszuhalten. Lolas feministisches Kämpfertum wirkt aufgesetzt. Von beiden Figuren bin ich weit entfernt. Zurück bleibt ein Gefühl von: Mmmh, ich weiß nicht recht.


Und sonst | Fronleichnamsprozession im Dorf und Spaziergang am Stausee entlang und durch die Westruper Heide.


Hinweis | Der Notarzt des Vertrauens besuchte aufgrund dieses Beitrags ein Freibad im Osnabrücker Land. Der Plan, meinen Alterssitz in den Ort zu verlegen, ist noch vorhanden. Allein wegen der kurzen Wege im Bademantel.

Kommentare

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  1. Daniela sagt:

    Herzlichen Dank wieder mal für das Mitnehmen ins Freibad! Ich habe ganz ähnliche Assozationen wenn ich einen Tag am Strand bin :)
    Ich hab „Die Wut, die bleibt“ erst einmal nach ca der Hälfte wieder weggelegt, die Beschreibung „es ist kaum auszuhalten“, trifft es bei mir total. Und genau den Wortlaut „Hm, ich weiss nicht recht“, sagte ich, als ich von dem Buch erzählte.

    1. Vanessa sagt:

      Gut zu hören. Ich lese sonst nur begeisterte Kommentare zum Buch – das zweifellos gut geschrieben ist. Mich hätte die Männerperspektive interessiert – Leons zum Beispiel.

  2. Annegret mäscher sagt:

    Das Schwimmbad meiner Kindheit, Schule direkt gegenüber.
    Den Bademantelherrn habe ich direkt vor Augen.
    So schön, Annegret M.

    1. Vanessa sagt:

      Genau – Schule direkt gegenüber. Und die Saline.

  3. […] hier, die Freibadbeschreibung. Unser Freibad, es fällt mir leider dann wieder ein, hat die Lokalpolitik ja abreißen lassen, ich […]

  4. Ines sagt:

    Bezeichnung meines Optikers für diese Art Brille: Das sind Wellnessgläser. Selten so dumm geguckt.

    1. Vanessa sagt:

      Wellness. Nun, Wellness brauchen wir ja auch alle. Wo wir doch so angespannt sind.

  5. Jo sagt:

    Laut statistischem Bundesamt werden rund 75% der Selbst­tötungen von Männern begangen. Da ist es ein bisschen komisch, Helenes Freitod im Zusammenhang von „feministische[m] Kämpfertum“ und „was es heißt, in unserer Gesellschaft Frau zu sein“ zu sehen. Die Fakten widersprechen meistens der gängigen Erzählung, und das große Unheil liegt nicht dort, wo es hier verortet wird.

    1. Vanessa sagt:

      „Whataboutism: the technique or practice of responding to an accusation or difficult question by making a counter-accusation or raising a different issue.“

  6. Stefanie sagt:

    Spannend, die unterschiedliche Wahrnehmung, ich habe das Buch verschlungen, dabei emotional sehr angefasst. Und auch nach einigen Wochen hallt es sehr nach. Nach zwei Jahren Pandemie, fünf Monaten Homeschooling mit zwei Kindern sowie meinem eigenen Job (mit sich Pandemiebedingt massiv änderndem Inhalt) – und einem Mann, dessen Job sich selbstverständlich keinesfalls ins Home-Office verlagern ließ fühle ich dieses Buch wie kein Zweites. Nie war ich dem Aufgeben so nahe. Und leider hört Gleichberechtigung genau dann auf, wenn Frau Kinder bekommt. hinzu kommt die permanente Bewertung von Frauen – und Mädchen, bei zwei Töchtern hoffe ich, es ändert sich bald viel.
    Liebe Grüße, Stefanie

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