Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Geschehnisse in Sichtweite bei digitalem Jump’n’Run

1. 5. 2021 8 Kommentare Aus der Kategorie »Anrainer«

Jump’n’Run | In den vergangenen Tagen habe ich meine Scholle nicht verlassen. Ich bin zuhause geblieben, 24 Stunden, 48 Stunden, 72 Stunden. Ich habe keine Lust mehr, durch die Gegend zu latschen. Alle Strecken bin ich dreißig, vierzig, sechzig Mal gegangen, aus der Haustür raus und links herum, rechts herum oder mit Kehrtwende den Berg hoch bis in den Wald hinein. Um den See, die Emscher entlang, durch die Kleingartensiedlung und durchs Feld, an der Pferdeweide vorbei in den Nachbarstadtteil. Ich möchte nicht mehr, ich kann das alles nicht mehr sehen. Zudem sind die Arbeitstage lang, und es ist bitterkalt.

Im gleichen Maße, wie ich keine Lust mehr habe, durch die Gegend zu haben, fehlen mir Ausgleich: etwas anderes sehen, hören, fühlen, schmecken, zusammensitzen mit Freunden, essen, trinken, das Meer riechen, Sand spüren, in der Sonne sitzen, die Füße im Fluss, einen Berg hinaufsteigen, die Hand am Fels. Der Tag beginnt morgens mit Aufklappen des Laptops, in diesem Kasten findet sie statt, ausschließlich, es fühlt sich wie ein Jump’n’Run-Spiel an, ein Springen vom Teams Call zur Zoom-Konferenz zum Go-to-Meeting und über das Mural zum Webex, parallel sechs Chat-Nachrichten und zehn E-Mails, ein Laufen von Problem zur Idee zur Lösung zur Abstimmung zur Entscheidung, da kommt schon das nächste Problem, der nächste Call, das nächste Meeting, die E-Mail.

Ich habe die Abende genutzt und drei lange Telefonate mit Freundinnen geführt. Obwohl wir nichts erleben, hatten wir uns doch Einiges zu erzählen. Die inneren Vorgänge sind aufregender als die äußeren.


Hallo, Melone! |  Einmal war ich doch raus. Ich war im Supermarkt. Dort gab es Wackelaugen zu kaufen. Sie werten nun mein Leben im Homeoffice auf.

Honigmelone in Obstschale mit Wackelaugen

Landwirtschaft | Im Garten habe ich Salat und Pak Choi eingegraben, die Zucchinis ins Beet gesetzt und Thorstomaten gestreichelt, die Pflanzen aus Bielefeld gewässert und nach den Beeren gesehen. Die Johannisbeeren entwickeln sich verheißungsvoll. Wenn ich die Gartenbilder aus dem vergangenen Jahr ansehe und mit 2021 vergleiche, hinkt der Garten drei Wochen hinter 2020 her.

Garten, im Vordergrund blühende Bodendecker, im Hintergrund Gewächshaus. Es ist heiter bis wolkig.

Für die Wege in den Beeten und unter der Wäscheleine habe ich einen rollbaren Gartenweg aus Holz bestellt. Ich bin gespannt, ob er brauchbar ist.


Tool | Word Art Cloud Creator


Geschehnisse in Sichtweite | In der Nachbarschaft ist jemand zugezogen, eine Frau. Sie duscht jeden zweiten Morgen, und nachdem sie geduscht hat, öffnet sie das Badezimmerfenster sperrangelweit, trocknet sich ab und cremt sich. Das geschieht immer zur gleichen Zeit, immer um 08:40 Uhr, wenn ich im Morgencall mit meinem Kunden bin. Über den Monitor hinweg sehe ich, wie sich gegenüber das Fenster öffnet und eine nackte Frau im Rahmen erscheint. Der Vorgang dauert fünf Minuten, dann schließt sich das Fenster wieder. Beim ersten Mal war ich erstaunt und, nun ja, deutlich von den Geschehnissen auf dem Bildschirm abgelenkt. Mittlerweile hat die Selbstverständlichkeit, mit der die Nachbarin mich an ihrer Duschroutine teilhaben lässt, etwas Erdendes.

Derweil haben andere Nachbarn während Lockdown I bis III eine Beach Bar gebaut, eine Hütte mit Lichterkette und Bast, mit einer Nische für den Kühlschrank, einer Theke und einer Getränketafel. Davor hat der Nachbar einen Pool ausgeschachtet, nur mit Schaufel und Muskelkraft; allein unter sportlichen Geischtspunkten eine beachtliche Leistung. Das Bassin ist zwei mal zwei Meter groß, das Wasser geht bis zur Brust. Vergangene Woche haben sie das Bauwerk mit Beton ausgegossen. Außerdem wurde ein Grill kirmesbudenähnlichen Ausmaßes angeschafft. Uns steht Großes bevor.


Gelesen und gehört | Hört uns zu! Zeit Online gibt Pflegekräften, Ärzten und Ärztinnen eine Stimme. Eindrückliche und bewegende Umsetzung in Bild, Text und 50 kurzen Audios.

Gelesen | Teresa Bücker plädiert dafür, Vereinbarkeit nicht nur als Vereinbarkeit von Arbeit und Familie zu sehen, sondern von Arbeit und zahlreicher privater Interessen, Verpflichtungen und Beziehungen.

Das fängt damit an, dass ich das Wort Vereinbarkeit hasse. Es ist genauso schrecklich wie der Begriff Work-Life-Balance. So wie wir es gebrauchen, beschreibt das Wort Vereinbarkeit nur die zwei Dimensionen Erwerbsarbeit und Familie und – come on – das ist einfach zu wenig. Vereinbarkeit vergisst nämlich, dass manche Menschen nicht nur Familie haben, sondern auch noch eine Steuererklärung machen, zur Therapie gehen möchten, sich wohler fühlen, wenn sie ab und an Sport machen können, gern Ehrenämter übernehmen würden oder ans Telefon gehen, wenn Freund_innen anrufen und dass es absolut ungesund ist, mehrere Jahre nur fünf Stunden lang zu schlafen.

Mutter, Tochter, Kanzlerin

Geguckt und gehört | Musiker und Songwriter Julius Hartog sprich mit den #NoCovid​-Professoren Michael Meyer-Hermann, Melanie Brinkmann und Dirk Brockmann. Unter anderem rätseln sie, woran es liegt, dass es den poitischen Entscheidungsträgern so schwer fällt, konsequente, mutige Entscheidungen zu treffen.

Die einzige Erklärung, die ich habe, ist, dass diese Akteure andere Entscheidungsprozesse gewohnt sind […]. Die Angst, etwas Falsches zu machen, wirkt paralysierend bei Entscheidungsträgern. Die sind, glaube ich jedenfalls, längere Zeitskalen gewohnt. Das heißt, erstens sind sie Situationen gewohnt, die ganz kompliziert sind, wo alles abgewogen werden muss und dann eine Entscheidung getroffen werden muss, die vielleicht funktioniert und das Abwägen geht eher so: Wo ist die beste Wahrscheinlichkeit, die richtige Entscheidung zu treffen? Eine klare, eindeutige, mutige Entscheidung zu treffen, ist wahrscheinlich gar nicht deren Metier. […] Das ist wirklich fatal in dieser Situation; da macht man immer so einen Mittel-Kompromiss-Weg.

Dirk Brockmann ab Minute 26

Hinzu komme, dass man zu einem Zeitpunkt handeln müsse, zu dem das Problem noch gar nicht sichtbar sei, die Intensivstationen noch nicht voll seien und noch keine Notfall- und Alarmstimmung in der Bevölkerung ist. Der deutsche Dauerlockdown sei nicht nur schädlich für die Wirtschaft.

Es ist ein massiver Schaden in allen Bereichen der Gesellschaft daraus entstanden. Das ist die Folge von dem Dauerlockdown und dem Hin und Her. Und nebenbei sind die Menschen auch noch gestorben. Es ist ja eigentlich eine zynische Idee, die Auslastung der Intensivbetten als Kriterium zu neehmen und zu sagen: ‚Lassen wir es so laufen, dass die Intensivbetten immer voll sind.‘

Michael Meyer-Hermann ab Minute 32

Kommentare

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  1. ANNA sagt:

    Zu allem mal wieder :JA JA JA .
    Insbesondere zum ersten Absatz – mir geht es so,ich könnte hier in der Umgebung noch so viel erleben,weil ich vieles noch nicht gesehen habe ,aber in einer Zeit mit weniger/keiner Kinderbetreuung und der gleichen Arbeitsflut fehlt selbst dazu die Muße .
    *Schulterzuckendes Emoji einfügen*

  2. hafensonne sagt:

    Ja, es ist ermüdend. Zumal wir auch schon woanders sein könnten, aber dafür hatte ja niemand Pöppes in der Büx. Ich wohne ja in einer Stadt, in der man völlig ohne Not gute (also niedrige) Infektionszahlen verspielt hat, indem man einfach alles wieder aufgemacht hat (na gut, nicht alles, die Gastro blieb zu), nur um dann festzustellen, jupp, mit den steigenden Inzidenzzahlen mussten wir rechnen. Ich weiß nicht, wie zynisch man als Bürgermeister noch sein kann. Immerhin hat unsere UArbeitgeberin erreicht, dass wir zügig geimpft wurden. Das entspannt mich etwas. Und wir können jederzeit an den Strand bzw. auf den Golfplatz. Privilegiert, ja. Das sind wir. Umso mehr sind meine Gedanken bei denen, die das alles nicht können.

  3. Alexandra sagt:

    Diese Art erweiterten Höhlenkoller fühle ich auch. Der Drang, wenigstens mal die zwei, drei Autostunden westwärts unter die Reifen zu nehmen, um die Füße in Zeelands Nordsee tiefzukühlen, wächst. Ob das irgendwie vertretbar, legal und anständig ist, wenn ich vor 22 Uhr wieder zu Hause bin? Ich geh‘ mal niederländische Inzidenzen und Grenzbestimmungen recherchieren … *schlurft seufzend ab*

  4. Camilla sagt:

    Da habe ich doch glatt zunächst gelesen, Sie hätten sich einen rollbaren Gartenzwerg für die Wege im Beet bestellt. Und nun grinse ich innerlich bei dem Gedanken an einen Riesenzwerg mit Rollen, den man nach Bedarf hin und her rollern kann. Muss man ja, steht ja auf Dauer auch unter der Wäscheleine im Weg ;-D .

    Die Wege sind bei mir mit vier kleinen Kindern schon seit Jahren immer die gleichen, aber die Begegnungen, die fehlen!!! Und die Stille, das Durchatmen!

    Unbekannterweise herzliche Grüße von einer treuen Leserin.

  5. Frau Irgendwas ist immer sagt:

    Oh mein Gott – die Melone! Fühlen Sie sich nicht ständig beobachtet? Und warum muss ich sofort an Tom Hanks in `Cast Away` und seinen Vollyball-Freund Wilson denken … *ja, auch hier Lagerkoller*

  6. martin III. sagt:

    Zum Spazier-Blues: Spätestens seit den Kinderwagen-Zeiten habe ich auch keinerlei Lust mehr auf Spazierwege hier im Örtchen, alles 5000mal gesehen, es wäre wirklich mal wieder Zeit für neue Wälder und Felder. Und plätschernde Gebirgsbäche und und …

    Zum Pool: 2 x 2 m, brusttief, und alles mit Spaten? Uiui, da hat aber jemand sehr dringende Lust aufs Baden. Ich wäre zu faul, gebe ich ehrlich zu.

    Zur neuen Nachbarin: ich habe ja immer Probleme komplexe Sachverhalte zu visualisieren, gibts auch Fotos …? :) Wobei die spannende Frage eher ist wie viele Leute das vermutlich sehen könnten – ist das eine Show für einen einzelnen Nachbarn und Frau Nessy ist unbemerkt auch im Blickwinkel, oder ist eine gewisse Breitenwirkung von vornherein absehbar?

  7. Lotti sagt:

    Danke für deine Sicht auf die Dinge. Ich stecke in der Blase – Familie mit Kindern (2-4-7-9) in der Pandemie-Dauerschleife; die beiden Schulkinder waren in diesem Jahr jeder 10 Tage in der Schule im Wechselunterricht. Sonst Zuhause. Die Abende für mich sind lang, um das am Tag nicht weggearbeitete zu erledigen. Wenn man die Elternblogs so liest, bekommt man den Eindruck, nur die haben „Recht“ auf Unzufriedenheit. Aber es gilt wirklich wahrzunehmen, dass Menschen aus vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen unter der Situation leiden. Die Jugendlichen, die daheim sind, die Sport machen und Parties feiern sollten aber in ihren Zimmern hocken, Studierende die im 3. Coronasemester (die Hälfte des Bachelors) in ihren Kinderzimmern sitzen, ausgefallene Auslandsemester (oder vom daheim am PC absolviert, wtf?), Menschen die alleine wohnen und kaum noch andere Menschen im wirklichen Leben treffen, RentnerInnen, die ihren Ehrenämtern nachgehen möchten, mit ihren FreundInnen Kaffeetrinken, Biertrinken oder in den Urlaub fahren. Die Situation ist wirklich einfach für alle be***, die Akkus sind leer.
    Durchhalten.

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