Es ist eines dieser Einkaufszentren im Ruhrgebiet. Ladenketten, Bäckereien und untendrin ein Supermarkt, downtown in der Fußgängerzone; ein Ort für Teenager auf Sinnsuche zwischen Lippenpflege und Skinny Jeans.
Ich sitze an einem der Eingänge in einem Bäckerei-Café und überbrücke die Zeit zwischen zwei Terminen mit Milchschaum und Brainstorming, so wie man es von Menschen in Berlin annimmt, nur dass meine Aussicht nicht die efeuberankten Altbauten eines Szenekiez sind, sondern ein Schuhladen, der für Winterstiefelschlussverkauf ab 19,90 Euro wirbt und in dessen belüftetem Eingangsbereich eine winzige Verkäuferin in der Warmluft steht.
Mein Blick auf sie wird durch vier silberhaarige Damen unterbrochen, die, jede einen Kakao und ein Stück Butterstreusel vor sich, ihre gesundheitliche Situation besprechen. Es geht um Hüften, Eierstöcke und die Serviceleistungen von Krankenhäusern in kirchlichen Trägerschaften, wobei man sich einig ist, dass evangelisch besser als katholisch, katholisch aber immerhin besser als städtisch ist, zumindest was das Nachmittagsgebäck in Orthopädie und Gynäkologie angeht.
Plötzlich Aufruhr: Polizei und Feuerwehr betreten die Szenerie und laufen ins Einkaufszentrum. Blaulicht flimmert in den Scheiben. Großes Hallo. Die Damen erheben sich leicht aus den Sesseln, so wie es ihre Hüften eben zulassen, und wenden sich der Fensterfront zu. Die Schuhverkäuferin dreht nur leicht den Kopf. Es scheint etwas Besonderes vor sich zu gehen, aber so wirklich gibt es nichts zu sehen. Das Geschehen findet um die Ecke statt.
Etwa zwanzig Minuten später kommen Frauen in Kitteln ins Café, auf der Kleidung das Emblem einer Drogeriekette. Ein junger Mann, heißt es, habe mit Reizgas um sich gesprüht, nichts Schlimmes, aber in diesen Zeiten weiß man ja nie. Die Verkäuferinnen werden mit Gratis-Kaffee versorgt. Die Silberdamen sind beim außerplanmäßigen zweiten Kakao, der Butterstreusel ist aufgegessen, aber es ist alles so aufregend. Noch aufregender wird es, als zwei Feuerwehrleute und ein Notarzt das Café betreten, junge Männer, die sich in warmem Tonfall erkundigen, ob noch jemand Hilfe benötige.
Die Damen erheben sich erneut und synchron in ihren Sesseln, setzen sich leicht um und lassen sich wieder sinken; es ist etwas deutlich Lorioteskes in dieser Geste. Ihr Blick ist nun nicht mehr gemeinschaftlich aus dem Fenster, sondern auf die Einsatzkräfte gerichtet. Eine der Frauen ergreift eine Serviette und fächelt sich Luft zu.
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragt der Notarzt. Er hat braunes, lockiges Haar und erfüllt alle Voraussetzungen für eine Krankenhaus-Vorabendserie.
„Und wie, Herr Doktor“, antwortet sie. „Und wie.“
Kommentare
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Hätte ich gerne gesehen, wie sie sich synchron erheben und wieder senken.
Es war genauso zauberhaft, wie Sie sich das vorstellen.
Danke für das Lächeln in meinem Gesicht! Wundervolle Geschichte!
Gern.
Und gerade den Vorfall in den Nachrichten auf 1live gehört.
Deine Berichterstattung ist entspannter…
Dort, wo ich saß, war es auch entspannt.
Woanders mag das anders gewesen sein.
Der Herr Doktor wird für Gesprächsstoff beim nächsten Kaffeekränzchen der Damen sorgen .
Das ganze Ereignis. Herrje. So aufregend.
Der Beschreibung nach mag ich vermuten, dass er sogar ueber das Jahr fortdauern wird, bis er dann von der naechsten OP-Geschichte verdraengt wird.
Ich habe das Gefühl dabei gewesen zu sein. Sehr schön geschrieben!
//*knicks
Wieder einmal sehr schön beobachtet und beschrieben. Man glaubt, die Szenerie vor sich zu sehen.
Zurück bleibt eine Frage: Wie spricht man „loriotesk“ aus?
[lori̯oː’ɛsk]
Sowas hatte ich befürchtet. Das will mir kaum über die Lippen, bzw. hört sich dann tierisch genuschelt an.
Also ein tolles Wort, aber für mein Empfinden leider nur für die Schriftsprache geeignet.