Es gibt Tage, an denen trage ich mein „Erzähl mir was“-Gesicht. Dann erzählen mir die Menschen Dinge, nach denen ich nicht gefragt habe.
Dieser Tage sitze ich mit meinem „Erzähl mir was“-Gesicht in der Bahn; wir sitzen zu Zweit nebeneinander, die junge Frau, die vielleicht 23, vielleicht 28 Jahre alt ist, und ich. Wir lächeln uns kurz an; ich lächle in solchen Situationen immer, denn lächeln kann man nie genug, besonders in öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie fragt, wohin ich fahre, dann erzählt sie, dass sie unterwegs zu ihrem Freund sei. Dabei wisse sie gar nicht, ob er noch ihr Freund sei, vielleicht mache sie bald Schluss, was allerdings schade sei, denn sie habe zuvor viele Jahre auf ihn gewartet, weshalb er vielleicht auch bald ihr Mann werde, also nicht sehr bald, aber in der Zukunft.
Ich wende ein, dass „Schluss machen“ und „Heiraten“ aber doch zwei Pole einer Skala seien; und von „Schluss machen“ bis „Heiraten“, dazwischen sei eine ziemliche Strecke – erfahrungsgemäß. Dazu muss man wissen, dass ich, wenn ich mein „Erzähl mir was“-Gesicht trage, niemals Fragen stelle, sondern immer nur Dinge feststelle, denn ich möchte nicht aufdringlich sein. Mittlerweile vermute ich, dass genau das die Menschen dazu ermutigt, weiterzuerzählen.
Sie sagt, ja, natürlich, das sei schon ein Unterschied, das sei ihr klar, aber ich müsse wissen, dass ihr erster Freund – nicht dieser, sondern der davor, der habe ihr immer eine runtergehauen. Zwar nicht ins Gesicht, denn dann wäre sie schon nach dem ersten Mal gegangen, weil: ins Gesicht gehe gar nicht, aber in die Rippen habe er geschlagen und am Arm habe er sie gepackt, deshalb habe sie es einige Jahre mit ihm ausgehalten, aber dann, als sie ein paarmal in die Notaufnahme musste, habe sie ihn doch irgendwann angezeigt. Nach ihm habe sie erstmal keinen Freund gehabt, denn sie habe auf ihn gewartet, also auf den jetzigen, vier Jahre lang. Weil: Er war damals noch liiert, aber sie habe immer gewusst, dass das auseinander gehe, nur er habe das nicht sofort erkannt.
Aha, sage ich. Was will man auch anders sagen.
Jetzt sei er frei für sie, sagt sie, aber er finde, er sei auch frei für andere, also allumfassend frei für alles, für eine Frau und für noch eine und für seine Kumpels und seine Familie, weshalb er sich nicht für sie entscheiden könne, noch nicht, sondern seine Zeit hier und dort verbringe, aber nicht mit ihr – nicht immer. Eigentlich nur selten mit ihr, dieses Wochenende zum Beispiel auch nicht. Doch das komme bestimmt bald, das Schicksal habe ihn ihr ja schon in die Hände gespielt, der Rest werde sich ergeben, wenn sie nur lieb genug zu ihm sei.
Ich denke: Wo will man da anfangen?, hole Luft und setze gerade zu einer vorsichtigen Zusammenfassung der Situation an, als sie fortfährt und meint: Das Problem sei auch, dass sie gerade einen neuen Job angefangen habe, als Pflegehelferin, was an sich super sei, aber wenn sie jetzt schwanger werde – sie müsse ihre Familie versorgen, zwar kein Kind, denn das Kind damals, das von dem ersten Freund, das habe sie verloren. Aber ihre Mutter sei angefahren worden und habe sich das Becken gebrochen und das, wo doch ihr Bruder gerade fort gezogen sei; sie könne sich das einfach nicht vorstellen, jetzt eine Familie zu gründen.
Mir schwirrt der Kopf, es wird auch langsam sehr warm im Zug. Wir sitzen in einem ICE, und ein ICE hält nicht an vielen Orten, manchmal nur einmal in der Stunde, weshalb nicht so oft Leute ein- und vor allem nicht aussteigen. In einem Regionalexpress hätte ich sie jetzt schon irgendwo zwischen Hamm und Bochum-Wattenscheid ins Draußen verabschiedet.
Ich sage etwas wie „Ach herrje, das ist aber vertrackt“, denn mal ehrlich: In all das jetzt und hier tiefer einzusteigen, übersteigt meine Kapazitäten, die meines Gleichmuts und die meines Sendungsbewusstseins. Sie beginnt gerade, mir von ihrer Kindheit zu erzählen, wie sie mit neun Jahren nach Deutschland kam und sich mit niemandem unterhalten konnte, als ihr Telefon ein Geräusch macht. Sie schaut aufs Display; ihre Gesichtszüge werden weich, sie tippt etwas, ich sehe im Augenwinkel Herzen und Emojis, dann schaut sie auf und sagt: „Na endlich. Er liebt mich.“
Kommentare
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Achherrjeee. So als fahrende Therapeutin unterwegs zu sein, ist auch nicht leicht.
Von außen sieht man eigentlich sofort, wie der Hase lãuft, betrachtet man die Fakten.
Sind aber Gefühle und Wünsche im Spiel , lãuft es gegen die Wand. Angeblich ist der Liebeskummer um so stärker, je unausgeglichener die Kräfteverhältnisse in einer Beziehung waren.
Und hier ist zu vermuten, dass sie wieder Jahre braucht, um über den aktuellen Heini hinweg zu kommen.
… nur um sich dann in den nächsten Heini zu verlieben.
Liebeskummer umso stärker, je unausgeglichener die Kräfteverhältnisse waren? Mmmh … //*denkt darüber nach … zumindest für den Schwächeren, ne.
Ja, für den Schwãcheren. Man hat viel mehr inverstiert als man bekommen hat, und man denkt, wenn iman schon so liebe, muss es ja irgendwann zurückkommen. Tut es aber nicht.
Der neue Heini ist wie der alte Heini, da haben Sie recht. Langjährige Forschungen im Bekannten – und Verwandtenkreis belegen das.
Sie haben es spannender, ich habe nur so ein „Frag mich nach der Route zu X“ Gesicht, egal ob ich die betreffende Stadt nun kennen wuerde, oder nicht.
Sie haben es aber auch schwerer, gar keine Frage. Ich weusste nicht, was ich in so einer Situation sagen sollte – des Menschen Wille und so, aber aus einer aktiv schlechten Situation muss man jemandem doch abraten? Hart zu sagen.
Was den naechsten Heini ja auch wahrscheinlicher macht ist, dass sich bestimmte Dinge in den Leuten dann zu Gewissheiten und Erwartungen verdichten, die – mal angenommen sie faende einen Anti-Heini – auch erstmal ueberwunden werden muessen („das macht er doch bestimmt nur wegen X“). Sich selbst verstaerkende negative Regelkreise sind Mist.
Ist es überhaupt gewünscht, etwas zu sagen? Meist möchten die Menschen doch nur Dinge abwerfen und weniger kluge Ratschläge.
Danke, dass es dieses Gesicht bei Dir gibt. Danke, dass Du zugehört hast. Denn oftmals ist es genau das, was viele nicht (mehr) können. Oder wollen. Dabei ist es so wichtig, jemandem ab und an seine Gedanken zu erzählen, um sich zu orientieren und vielleicht aufzuräumen im Oberstübchen.
Sagte ich schon: Danke?
Gern. Ich bin meist viel zu interessiert an anderen Menschen, als dass ich nicht zuhören wollte.
Naja. Nicht immer.
Alles möchte ich mir auch nicht anhören.
Puh! Das stimmt, wo soll man da anfangen? Ich fühle mich dann ja oft so zuständig dafür, diesen Menschen Ratschläge und Tipps zu erteilen, und weiß doch genau, dass das gaaaaanz falsch ist, und ich besser noble Zurückhaltung üben sollte. Ich lerne das. Immer wieder aufs Neue.
Ich habe glaube ich noch nie vorher so eine herzzereißende Charakterisierung einer – ich sag es mal platt – typischen Frau Ende 20 gehört. Alles mitmachen und so viel aushalten um dann bei einer whatsup-Nachricht wieder schwach zu werden. Ach herrje.
Ja, es ist wirklich so, dass viele Menschen jemanden brauchen, der zuhört. Ratschläge sind selten gewünscht. Aber mal alles rauslassen und dabei evtl. auch „alles mal für sich selbst in die Reihe stellen“. Da kann ein freudliches Lächeln und Nicken eines völlig Fremden hilfreicher sein als ein Gespräch mit Bekannten. Beruflich habe ich sehr viel damit zu tun, habe anscheinend das „kann Zuhören “ auch imaginär auf der Stirn tätowiert – es passiert mir sehr oft, dass ich im Zug oder Bus/Straßenbahn angesprochen werde. Immer kann ich das nicht gut verkraften (kommt auf die Situation und das Thema an)- und manchmal möchte ich auch werten – und sagen: Sei doch nicht so blöd und mach das wieder…..
Gruß Jule
Ich bin da irgendwie auf der Seite der jungen Frau. Jeder braucht doch mal wen zum Aussprechen. Und viele Leute haben das nicht.
vertrackt.
Vielleicht stimmt es ja. Man wünscht es ihr doch!
[…] schreibt einen Roman. Na, […]
Dieses „erzähl mir Dein Leben“-Gesicht, es muss angeboren sein, ich besitze es auch^^.
Lange wurde es (ausge)nutzt, dann hatte ich es ganz abgelegt, mittlerweile kann ich es wieder als Geschenk genießen, wenn Menschen mir Dinge anvertrauen, die sie bewegen.
Ok, meistens^^.
Es sind Beiträge wie DIESER, wegen denen ich immer gerne hierherkam, meine Güte, ich war zu lange weg!
Neeeiiin,das gibt’s doch überhaupt nicht…Die Frau muss aber in ihrem Leben wirklich sehr,sehr wenig Aufmerksamkeit bekommen haben,wenn sie Dir,als völlig Fremde,gleich das alles erzählt!
Dazu fällt mir eine Situation ein,die ich mal mit einem Mitpatienten im Krankenhaus erlebt habe.Das war so einer,der anscheinend nicht ohne die permanente Aufmerksamkeit anderer leben konnte.Jedenfalls fragte der mich direkt,als ich auf die Station kam,ob ich denn nicht mit ihm zusammen in die Badewanne gehen wolle.Er hätte ja gar keine Hintergedanken,er wolle nur nicht alleine sein und hätte doch so viele tolle Badezusätze dabei… :-p
Da fiel mir auch nichts mehr zuvein!
was für eine schöne geschichte. danke.
Danke auch fürs Lesen!