Es gibt Menschen, die oft Abschied feiern müssen. Aus beruflichen Gründen. Oder aus persönlichen. Weil sie oft umziehen. Oder weil sie ihr Leben mit Menschen teilen, die sich ihrerseits verabschieden.
In früheren Zeiten mag es noch mehr Abschiede gegeben haben als heute. Die Menschen starben schneller. Sie wurden verschleppt. Oder verheiratet. Es gab Kriege.
Bei Zeit Online findet sich ein wunderbarer Beitrag übers Abschiednehmen und Loslassen. Er ist von Sven Stillich.
Sven Stillich schreibt:
Es gibt in Deutschland ein bekanntes Schild. Darauf steht: „Wir bitten Sie, diesen Ort so zu verlassen, wie Sie ihn vorgefunden haben“. Gilt das auch für Menschen? Kann man einen Freund oder Partner verlassen, wie man ihn angetroffen hat? Nein.
Ich lese das, mein Herz wird schwer. Es müsste nicht nur einfach ein „Nein“ dort stehen, sondern ein energisches „Nein!“, ein „Natürlich nicht!“. Mir kommt die Geschichte vom kleinen Prinzen in den Sinn, dem der Fuchs sagt: „Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“
Denn was passiert, wenn wir uns einander vertraut machen? Stillich:
Wir lernen, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen, übernehmen seine Angewohnheiten oder ihren Humor, tauschen Ideen aus. Die Nervenbahnen zweier Gehirne verdrahten sich – und es bildet sich etwas, was Wissenschaftler „transaktives Gedächtnis“ nennen. Wir lagern Wissen in den anderen aus: Ich weiß nicht, wo die Kerzen sind, aber ich weiß, dass mein Partner das weiß. […]
Was also geschieht, wenn Menschen verlassen werden? Sie verlieren buchstäblich ihren Kopf. Sie sitzen nun da mit einem Humor, der nicht der ihre ist, mit Ritualen, die kein Gegenüber mehr haben, mit Gehirnstrukturen, die sie früher nicht hatten – und die sich über Monate oder Jahre hinweg nicht neu verdrahten werden.
Wir verlieren nicht nur den Anderen, wir verlieren auch uns selbst.
„Warum hast du dich überhaupt in dem Anderen verloren!“, maulen entrüstet diejenigen, die noch nie geliebt haben; die vielleicht auch nicht lieben können. Aber das ist ja das Schöne an der Liebe: Das man sich im Anderen verlieren und sich selbst dort finden kann; dass man nicht weniger wird, wenn man liebt, sondern aneinander wächst. Ich bin ich, für mich allein, aber noch mehr mit dir. Wie der Raum, der größer wird, wenn eine seiner Wände ein Spiegel ist.
Wenn wir nun loslassen – wollen oder zum Loslassen gezwungen werden; wenn wir nun also Abschied nehmen, dann verlieren wir nicht unser Selbst. Wir verlieren nur die Möglichkeit, dieses Selbst in seiner Ergänzung zu leben. Wir werden unserer Entsprechung beraubt. Wo die Straße früher einen Bogen machte, endet sie nun in einer Schranke: Hier ist nun Ende. Hier hat jemand abgeschlossen. Es braucht neue Trampelpfade, um zu dem Ort zu gelangen, den es zwar immer noch gibt, der aber neu erschlossen werden muss.
Das Gute an alldem: Ist er schließlich neu erschlossen, haben wir durch den Abschied nicht nur jemanden verloren. Wir haben auch an Selbst gewonnen – an Erlebnissen und Empfindungen, an Achtung, Entschlusskraft und Erkenntnis. An neuen Wegen. So bleibt jeder Verlust immer ein Verlust. Und ein Gewinn; jeder Abschied ist ein neues Kennenlernen.
Und immer noch gilt, was ich vor nunmehr acht Jahren schrieb:
Die Einsicht, dass es im Leben keine Wiederholung gibt, dass die zweite Chance, wenn sie sich überhaupt bietet, nur die Illusion einer Möglichkeit und nicht das Original sein kann, macht einen kurzen Moment lang traurig. Doch dann fasse ich mir ein Herz und flüstere erhobenen Hauptes zurück: „Aber es gab uns. Das allein ist, was rückblickend zählt.“
Kommentare
13 Antworten: Bestellung aufgeben ⇓
Und jeder Abschied, wie schmerzlich, hart, tiefgreifend er auch sein mag, ist stets auch ein Neubeginn…
Was für bereichernde Gedanken. Danke!
Schön.
Und noch ein Zitat, nicht ganz passend, aber es kam mir eben in den Sinn: “You get a strange feeling when you’re about to leave a place, I told him, like you’ll not only miss the people you love but you’ll miss the person you are now at this time and this place, because you’ll never be this way ever again.” –Azar Nafisi, Reading Lolita in Tehran
Doch, doch. Das Zitat ist sehr passend. Danke dafür.
Liebe Frau Nessy,
seit langem lese ich nur still und freue mich über Ihre Worte. Ich habe heute selbst einen Abschied hinter mir, der mir alles andere als leicht fiel. Vielleicht ist er nicht endgültig, wer weiß, aber trotzdem bleibt der Abschied ein Abschied. Auch wenn man wiederkehrt, eines Tages, es wird nicht das gleiche sein. Vielen Dank für den schönen Artikel, er macht meinen Tag heute rund und den Schmerz einen Hauch kleiner.
Herzliche Grüße, Anette
Gern.
Nein, es wird nicht das Gleiche sein. Weil wir nicht mehr die gleichen sind. Weil wir Momente zurückhaben möchten, nicht die Person. Oder wenn doch die Person, dann die, die sie gewesen ist. Oder von der wir meinen, dass sie es gewesen ist.
Danke.
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
So ein Gedicht kann man schreiben, nach einem langen Leben mit vielen Abschieden.
Es ist die letzte Zeile von Hermann Hesses „Stufen“
Liebe Frau Nessy,
der Text berührt. Und besonders berührt der Text Menschen, die das von Ihnen so wundervoll Geschilderte gerade verspüren.. und nicht so gekonnt in Worte fassen können.
Mein Herz bedankt sich bei Ihnen.
Danke schön! Hat sehr gut getan Ihr Text. Hab ich heut gebraucht, nach einer Welle des Loslassens….
Lieber Gruss erika
Ich wuerde ja behaupten, dass man an den gleichen Ort eben nicht mehr zurueckkommt. Die alten Gemeinsamkeiten sind beendet und die dadurch eingespielten Mechanismen und Strukturen nicht mehr gueltig. Wenn wir nun jemanden neues finden, ergeben sich – rein aus der anderen Kombination – neue Dinge daraus. Um in Ihrem Bild zu bleiben: man findet einen anderen Ort, der dem alten aehnlich ist, aber nicht gleich – das tut der Schoenheit des alten (oder des neuen) aber nichts.
Das heb ich mir jetzt auf. Das haben Sie so schön formuliert, das werde ich irgendwann einmal mit anderen Menschen teilen (und Sie zitieren natürlich).
Das passt. Der Text beschreibt gut, was das Schwierige und manchmal auch Schöne ist, Abschied zu nehmen, sich zu entlieben oder zu entfreunden. Dankeschön.