„Sommergrippe?“, fragt er.
Ich sitze an der Bushaltestelle. Der dicke, alte Mann neben mir trägt eine Glatze mit Baseballkappe, dazu Polohemd, Goldkettchen und Joggingbuxe. „Hab‘ ich auch“, sagt er und hustet nachdrücklich. „Is‘ manchma‘ noch schlimmer als im Winter.“
Ich bejahe.
„Kommze vonne Schicht?“, fragt er. Er sitzt breitbeinig da. Seine rechte Hand stemmt sich auf seinen Oberschenkel, der schrundige Ellbogen ragt in die Luft. Der andere Arm ruht auf seinem anderen Oberschenkel, die Hand baumelt in seinem Schritt. Ich bejahe wieder.
„Ich mach‘ ja nur noch Nachtschicht“, sagt er. „Sonst sauf’ich zu viel. Weil, watt willze sonst machen, wennde um 14 Uhr nach Hause kommst. Kannste nix anderes machen, machste Pulle Bier auf und noch eine und noch eine. Kommste nur ans Saufen. Ich bin ja alleinstehend, woll, ich hab‘ keinen. Deshalb mach‘ ich nur noch Nachtschicht. Dann kann ich morgens pennen, und am Nachmittach is‘ nich‘ mehr lang bis Nachtschicht.“
Er nimmt seinen Arm vom Oberschenkel und reibt sich mit dem Handrücken laut schiefend unter der Nase entlang. „Dabei hab‘ ich schomma versucht, nochma‘ ’ne Frau kennenzulernen“, sagt er. „Hab‘ sogar 80 Zuschriften gekricht. Hatte so’n Profil im Internet und inne Zeitung. Macht man ja getz nich‘ mehr, inne Zeitung, abba ich hab’s gemacht, weil, ich bin ja schon ’n gesetzteren Herrn, da kann man dat machen. Abba die woll’n alle nur mein Geld.“
Ich gucke wohl etwas ungläubig, denn, mal ehrlich, er sieht nicht aus, als habe er Reichtümer zu verteilen.
„Denkste, ich hab‘ keine Kohle, nä? Ich hab‘ dreitausend jeden Monat. Ich war auf Zeche, und dann Staublunge, schwerbeschädigt, lebenslange Rente. Dazu Nachtschicht in Sekuriti – abba nur, um unter Leute zu kommen. Ich kann Geld scheißen. Bis Februar hatte ich ’ne Geliebte, 35 Jahre jünger, nettes Mädken, Polin. Habse von oben bis unten eingekleidet. Im Januar war ich mit ihr auffe Kanaren, obwohl da schon Schluss war, abba egal, alleine is‘ ja auch Mist, also hab‘ ich sie nochma‘ ausgeführt. Abba ich hab‘ ihr gesacht: ‚Hömma‘, hab ich gesacht, ‚machen wa‘ nich‘ Mann und Frau, machen wa Vatta und Tochter, wenn jemand fragt, woll.‘ War mir sonst zu peinlich. Und weißte, watt passiert is? Weißte?“
„Die Typen am Pool haben sie angegraben.“
„Abba sowatt von! Dann bin ich zu denen hin und hab gesacht: ‚Hömma‘, hab ich gesacht, ‚lass deine Finger von mein Mädken, die geht verlobt. Die heiratet in zwei Monate.‘ Abba hat nich‘ geklappt mit der. Am Ende wollnse alle nur mein Geld.“
Hinten an der Ampel steht schon der Bus. Gleich wird er an der Haltestelle vorfahren. Ich stehe schonmal auf.
„Schade“, sagt er. „War schön, mit dir zu sprechen. Weißte, wennde nach Hause kommst und da is‘ niemand, datt is‘ schon scheiße. Aber wennde da sitzt und weißt, da kommt auch niemand, datt tut so richtich weh.“
Schnaufend hält der Bus. Die Reifen quietschen am Bordstein.
„Komm gut nach Hause, woll“, sagt er.
„Alles Gute“, sage ich.
Kommentare
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Mei. Traurig schön.
och manno…
Einerseits tut der Kerl (stellvertretend für viele andere) echt ein bisschen leid, jetzt, andererseits fühle ich mich jetzt eher nicht so animiert, daran etwas zu ändern.
hmpf.
Aber: lautmalerisch schön geschrieben, ich sah ihn vor mir, sogar die Hände imaginierten sich ungewollt.
Tja – er muss seine Einsamkeit wohl zuallererst selbst anpacken. Jemand anders kann’s nicht für ihn tun.
Frau Nessy – ich liebe Ihre Geschichten!
Mir kamen die ehrlichen Tränen der Rührung und die Selbsterkenntnis, dass ich scheinbar das weibliche Gegenstück Ihrer Bushaltestellenbekanntschaft bin. Allein sein ist so viel schlimmer, wenn man den Spiegel vorgehalten bekommt und fürchten muss, eine „crazy cat lady“ zu werden trotz Katzenhaarallergie. Dennoch oder vielleicht genau deswegen liebe ich Ihren Blog.
Woran liegt’s, dass Sie zur Bushaltestellenbekanntschaft mutieren?
Es liegt an der Einsamkeit – daran, dass man sich selbst auf die alten Klassiker „Blut is dicker als Wasser“ und „Niemals ist man so ganz allein“ nicht mehr berufen kann. Ich trinke keinen Alkohol, jedoch ist das Ertinken im Meer von Einsamkeit nicht weniger hässlich. Gepaart mit Selbstmitleid eine gefährliche Kombination.
Ich wünsche Ihnen gute Besserung für die Grippe und bedanke mich ganz besonders für Ihren einfühlsamen Blick auf Ihre Mitmenschen.
Lieber Himmel – ist das traurig….Da fehlen mir echt die Worte. Und trotzdem, wunderschön geschrieben. Danke Frau Nessy!
Immernoch Sommergrippe?
*Es ist schwer das Leben zu zwein,
nur eins ist schwerer,
einsam sein*
Tucholsky
Gute Besserung weiterhin, Nessy. Wird schon. Muss.
Immer noch, ja. Ich sag‘ ja: schlimme Sommergrippe – kein Schnüpfchen.
immerhin haben Sie vor ihrem Sitznachbarn nicht den echten Namen der Krankheit preisgegeben.
Ich mein, da hätt er sicher schon komisch geguckt, ne Frau mit Männergrippe.
Die meisten, denen ich es erzähle, machen sich darüber lustig und verkennen den Ernst der Lage.
Und er wird allein bleiben. Irgendwann keine Nachtschichten mehr machen können und saufen. So ist es doch meistens irgendwie.
Wenn der Alkohol nicht wäre …
Tief beeindruckt.
und:
http://www.wilhelm-busch-seiten.de/gedichte/letzt44.html
Sehe ich auch so wie Herr Busch.
toll toll.. kann ich da nur sagen.. schön geschrieben und ein bisschen traurig zugleich…
Dieser Mann ist total einsam…und so geht es vielen Menschen. Das ist so traurig :( Und dann nimmt man sich lieber einen Golddigger als gar keine Frau an der Seite…..das ist noch trauriger….böse werde ich, wenn ich diese Weiber sehe, die solche Männer nur ausnutzen!!
Ein Paradebeispiel für : „Geld macht nicht glücklich“
Sehr schön geschrieben !
Auch wenn ich es einen treffenden Kommentar finde, denke ich fehlt dem Satz das ‚allein‘. Aus unserer Warte zeigt es aber auch, das Maennerschnupfen sein gutes hat – fuehrt er doch zu solchen Bekanntschaften. Wer weiss, vielleicht gibt es fuer Herrn Polohemd auch noch ein unerwartetes Weiterlaufen des Lebens… :)
//und: danke fuer den schoenen Text
Ich habe das „allein“ bewusst weggelassen. Geld hat mit Glück nichts zu tun, nur mit dem „über die Runden kommen“. So sehe ich es zumindest. ;-)
Traurig philosophisch der vorletzte Absatz.
Ach, Frau Nessy.
Das ist wieder eine wunderbare Geschichte, obwohl sie gar nicht schön ist und ich nutze die Gelegenheit, um Ihnen – als ansonsten weitgehend schweigend-staunender Zaungast – mal zu sagen, dass es schon klasse ist, bei Ihnen zu lesen.
Gute Besserung!
Herzlichen Dank.
//*schiebt Begrüßungskekse rüber
Erinnerte mich unwillkuerlich an den guten, alten Franz Biberkopf aus Doeblins „Berlin Alexanderplatz“. Weiss jetzt nicht, ob Ihnen das was sagt – Ich glaube, es ist dieses tumbe Realistisch-Sein, diese matter of fact Einstellung, „so ist es halt“, ungeschminkt, ohne Verschoenerung. Ich bewundere das, mit Entsetzen.
Ach Frau Nessy, das ging unter die Haut.
Gute Besserung!
Abba Recht hatta ja…
Traurig … und ein typisches Phänomen unserer Zeit. Man denke an die vielen alten, einsamen Leute.
Beim Lesen tat er mir so leid, ich konnte die Einsamkeit geradezu spüren. Aber ich würde ich auch nicht helfen können.
Ob es bei ihm am Alter liegt oder auch mit 40 einsam wäre? Ich weiß es nicht.
Mensch, Frau Nessy! Und so ’ne gute Partie hammse sich entgehen lassen!
Geld ist halt nicht alles!
Aber den Märchenprinzen einfach so wegschicken, nur weil er statt des weißen Pferdes mal den Bus genommen hat, ist schon sehr snobistisch.
*schnief* *rotznase wegwisch* *schnief*
wunderbare personenbeschreibung, sehr schöner einstieg!
Geht mir auch so, geschüttelt und gerührt von dieser Geschichte, dieser Begegnung. Und ich denke nicht, dass es eine Frage des Alters ist, man kann auch mit 20–30 so einsam sein, wie dieser Mann es offenbar ist. (Das geht doch in dieser unserer Gesellschaft ganz einfach, oder?)