Gelesen:
Gianrico Carofiglio. Testimone inconsapevole.
(Deutscher Titel: Reise in die Nacht)
Ein Krimi in Tradition der „Zeugin der Anklage“: Der Anwalt Guido Guerreri verteidigt den Afrikaner Abdou Thiam, dem vorgeworfen wird, einen kleinen Jungen entführt und getötet zu haben. Die Beweislage ist erdrückend, die Vorverurteilung bereits geschehen. Carofiglio erzählt angenehm zurückhaltend aus der Ich-Perspektive des Anwalts, der im Gerichtsaal analysiert, argumentiert und in seiner Freizeit nebenbei mit seiner Nachbarin anbändelt. Ein wirklich gutes Buch, eine sympathische, tiefgründige Hauptfigur – eine Eins mit Sternchen.
Pascal Mercier. Der Klavierstimmer.
Die Zwillinge Patricia und Patrice sind erschüttert: Ihre Vater, ein Klavierstimmer, hat einen Opernsänger auf offener Bühne erschossen. Warum? Sie reisen zu ihren Eltern nach Berlin und gehen der Sache nach. In Tagebüchern erzählen sie sich gegenseitig ihre Erkenntnisse und Eindrücke. Das Buch ist episch und leidet aufgrund der doppelten Erzählstruktur unter einigen Wiederholungen. Die Handlung beschränkt sich auf Gespräche mit den Eltern. Gesamteindruck: na ja. 300 statt 500 Seiten hätten es auch getan.
Nina Pauer. Wir haben keine Angst: Gruppentherapie einer Generation.
Wirtschaftskrisen, Terroranschläge, atomare Katastrophen – die Generation der 30-Jährigen hat alles mitgemacht. Davor hat sie keine Angst. Stattdessen ist sie bis ins Mark verunsichert und überfordert von ihren Möglichkeiten. Mit den Protagonisten Anna und Bastian zeigt Nina Pauer zwei Prototypen. Gründe und Analysen bleibt sie allerdings schuldig. Stattdessen beschreibt sie nur, bleibt an der Oberfläche und wirft Fragen auf, anstatt sie zu beantworten. Ich hatte mir mehr versprochen.
Annemarie Schwarzenbach. Das glückliche Tal.
Persien, im Angesicht des Demawend. Annemarie Schwarzenbach ist dort, erholt sich, reflektiert ihre Reise durch den Orient. Das Buch hat keinen Plot, keine Geschichte. Es erschließt sich schwer. Trotzdem fesselt es bisweilen. Schwierig zu sagen, ob es mir gefallen hat: Zweifellos hat es etwas, restlos überzeugt bin ich aber nicht.
Rose Tremain. Der weite Weg nach Hause.
Lev wandert aus. Weg aus der Ukraine, weg von seiner Mutter und seiner Tochter, nach Großbritannien, um dort sein Glück zu suchen. Denn zu Haus gibt es keins. Seine Frau ist gestorben, und Arbeit ist auch keine mehr da. Erst verdingt er sich als Prospektbote, dann als Küchenhilfe. Er zieht zu einem trunksüchtigen Iren, der ebenso melancholisch ist wie er. Mutig, unverdrossen und gelehrig improvisiert sich Lev durch die fremde Welt. Ein schöner, Mut machender Roman, ganz nah an der Hauptfigur.
Kommentare
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„Der weite Weg nach Hause“ habe ich vor kurzem ebenfalls gelesen. Ein schön erzähltes Buch, von der Busfahrt am Anfang bis zum Happy End. Sehr empfehlenswert.
Und so wunderbar unspektakulär: eine zurückhaltende Hauptperson und ein Erzählstil, der sich nicht so wichtig nimmt.
Ach schön! Das holzige Hündchen ist aus seinem Körbchen gekommen.
Die Weihnachtsdeko ist abgehübscht. Sein Urlaub ist vorbei.
ja, ich hab mich auch gefreut.
im Kaffeehaus kehrt Normalität ein.
Reise in die Nacht und der weite Weg nach Hause sind mal soeben in meinen Einkaufswagen gerutscht. Danke für die regelmäßigen Büchertipps, ich finde die sehr spannend!
Liebe Grüße
Juniwelt
Sehr gerne. Ich lese andernorts auch gerne, was Andere gelesen haben, egal ob gut oder schlecht. Ich finde, das hilft immer bei der Entscheidung für oder gegen ein Buch – und bei Entdeckungen.
Nun ist der Weihnachtsbacklog noch nicht gelesen und Sie kommen schon mit neuen Tipps. Ich sehe schon: mein Stapel noch zu lesender Buecher wird nicht schrumpfen. Koennen sie zu ‚Reise in die Nacht‘ auch was zur Uebersetzung sagen, denn wenn ich das Cover recht sehe, haben Sie das ja auf italienisch gelesen (und mit Uebersetzungen muss man Glueck haben).
Komplett abseits davon: Die Generation 30 heutzutage ist unfaehig mit Ihren Moeglichkeiten umzugehen? Ich vermute, es ging Ihnen um diesen Gedankengang? Denn irgendwie fehlt mir da von vornherein die Identifikation…
Leider kann ich nichts zur Übersetzung sagen; habe nur das Original gelesen, das sehr zurückhaltend erzählt ist und konsequent die Ich-Perspektive einhält (weswegen wir Leser bis zum Ende nicht wirklich wissen, ob der Angeklagte das Verbrechen begangen hat oder nicht, aber das ist Nebensache).
Ja, um den Gedankengang geht es. Pauer stellt mit ihren zwei Protagonisten zwei Pole vor: Sie ist perfektionistisch, er lässt sich treiben. Mit beiden Charakteren konnte ich nicht viel anfangen, und Erklärungen liefert die Autorin auch nicht.
carofiglio ist klasse, habe alles von ihm gelesen. toller humor!
Das heißt, die nachfolgenden Bände sind auch toll? Erwäge, sie mir zum Geburtstag zu wünschen.
Ihr Spargel ist geschossen, Frau Nessy.
Nun musste ich tatsächlich zwei komplette Tage warten, bis jemand eine Bemerkung zu dieser zweideutigen Pflanze macht. Aber auf Sie, Herr Marco, ist Verlass.
„Nachtzug nach Lissabon“ von Mercier gehört zu den Büchern, die ich alle paar Jahre wieder lesen muss, wem also „Der Klavierstimmer“ gefällt, der muss das Buch auch lesen. Muss! ehrlich
Dann muss ich das Buch also nicht lesen …