Zweiter Weihnachtstag. Besuch bei Unsaomma.
Als ich ihr Zimmerchen betrete, sieht sie seltsam abgezehrt aus. Ihr Mund ist eingefallen. Sie schmatzt mit hohlen Wangen an einem gestippten Keks. „Hallo Omma“, sage ich, „frohe Weihnachten. Was ist mit deinen Zähnen passiert?“
Sie hält inne und schaut mich mit Rehaugen an. „Die Schähne schin mir inni Doiledde gechallen.“
Ich blicke sie an. „Das ist doch ’n Witz“, sage ich. Aber Unsaomma lacht nicht.
„Näää“, sagt sie stattdessen, „ich hab mir die Buksche hochgeschogen und misch umdrehd, um abschudrücken, da isch mir dasch Gebiss insch Klo gechallen.“
Ich frage: „Hast du denn sofort abgezogen, oder wie?“
„Näää“, sagt Unsaomma. Sie habe sogar noch nachgefasst, aber sie könne sich ja so schlecht bücken. Und als sie für besseren Halt auf dem Spülkasten abstützte, sei plötzlich die Spülung gegangen. Da sei es eben weg gewesen, das Gebiss. Aber nur oben. Unten sei noch am Start. Ich muss lachen. Sowas gibt’s doch nur in schlechten Comedy-Shows. Unsaomma guckt bedröppelt und mümmelt an ihrem Keks.
Ich reiche ihr den eingepackten Abreißkalender. Sie packt ihn aus und sagt: „Schön. Auchhängen, woll. Da.“ Sie deutet auf die Wand, eine Stelle zwischen meinen Babyfotos und einem Foto von Prinzessin Viktoria und Prinz Daniel, herausgetrennt aus der „Bild der Frau“. Ich hänge den Kalender an einen freien Nagel. „Schön“, sagt Unsomma nochmal.
Später kommt die Tante. Wir unterhalten uns über dies und das und über die Cousine. Sie wohnt jetzt in Hamburg und lebt mit einer Frau zusammen.
„Eine Chrau?“ fragt Unsaomma.
„Ja, Mutti“, sagt die Tante. „Die Denise ist jetzt lesbisch.“
„Ach“, sagt Unsaomma. „Dasch gibt sisch wieder.“
„Omma“, sage ich. „Das ist doch keine Krankheit.“
„Und wie machen die Kinder?“ fragt sie.
„Mutti, die machen keine Kinder“, sagt die Tante. „Die Franka ist ein ganz liebes Mädchen. Sie war Heiligabend bei uns.“
„Haddie auch scho komische Haare?“
Die Cousine trägt Dreadlocks.
„Nein, Mutti. Sie hat ganz normale Haare.“
„Wasch?“
„Nor-mal-le Haare! Sie hat NOR-MA-LE HAARE!“
„Ja dann.“
Unsaomma windet sich in ihrem Sessel und lässt krachend einen fahren.
„Mutti!“
„Omma!“
„Och“, sagt sie und blickt uns mit großen Augen an. „War doch gansch leische.“
Ich seufze. Es ist wie bei Hoppenstedts. Wir sind Hoppenstedts. Und ich bin Dicki. Ich hab’s immer gewusst.
Kommentare
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Göttlich :-)
Herrlich…! Passiert nur Ihnen sowas?
Ich weiß nicht, ob sie zu beneiden oder zu bemitleiden sind.
Aber danke für den herzlichen Lacher am Abend!
Gruß und einen guten Rutsch wünscht Stella
Wahrscheinlich passiert das allen, aber nur ich schreibe es auf.
Ihnen auch einen guten Rutsch.
Wunderbar erzählt! – zum Trost: überall ist Hoppenstedt.
Köstlich :o)
Noch vor Loriot ist mir Ralf König eingefallen.
(WAS hat sie sich hochgezogen???)
Die Buxe.
Das Gebiss schwamm hier auch, allerdings im Trinkglas.
Tja, und ansonsten kam raus, dass der Cousin wegen Bankraub veruteilt wurde.Ein bisschen vertuscht hätte man da aber schon. Er hätte Bewährung. Bei Bankraub Bewährung? Ja, die Kassiererin hätte ihn erkannt.
Und es scheinen Männerdurchbrennwochen zu sein in der Verwandtschaft. Bei Ihnen auch?
nee, bei uns sind noch alle da. Das Geld auch. Gebisse hamwer noch keine.
Alles klar in meinem Elendsverband *hüstel* der Familie…
Oh je, eine Verwandtschaft, die zu dumm zum Bankraub ist. Sie sind wirklich geschlagen, Frau Croco.
Durchbrennwochen, nein. In 2011 sind nur Leute gestorben. An Krebs und Herzmuskelentzündung und so einem Scheiß. Oder sie wurden psychisch … ähm … besonders. So halt.
Das hab ich auch gesagt, zu doof .Der Bankräuber ist übrigens aus dem angeheirateteten Teil ;-)
Es war das erste Jahr seit langem ohne gestorben. Aber fast, das hatten wir.
Weihnachten – die Zeit, wo der Familienklatsch einfach besonders gut zirkuliert? Wahlweise draengt es dann einfach sich davon zu machen und dann stirbt man lieber, bevor noch *so* ein Fest… ;)
//Und sich beim Bankraub fangen lassen ist ja auch nur eine spezialisierte Form von Durchbrennwoche, oder?
Daran haben wir noch gar nicht gedacht: Dass er sich hat erwischen lassen, um von zu Hause durchzubrennen. Zwar im Knast, aber Hauptsache weg.
Genau, Bankraub als Auszugsvariante.
Ob jetzt auch was in der Birne durchgebrannt ist, muss noch untersucht werden. Ist übrigens der selbe Seitenzweig des Stammbaums.
Aber bei meinem Zweig ist der Durchgebrannte wieder da.
Bis auf seine Frau freut sich keiner drüber.
Ist so einer, der einem auf jeder Feier alles erklärt. Am liebsten das, wovon er wenig bis nix versteht. Und die anderen sitzen dann in Höflichkeisstarre da und sagen nichts. Er nimmt das vorsichtshalber als Zustimmung.
Als mein Opa noch gelebt hat, war Weihnachten bei uns immer wie eine Mischung aus Loriot und Familie Heinz Becker. Aber auch schön.
Opas sind so, nicht wahr?
Ich stelle mir Frau Nessy grad mit zugehaltenen Augen und rausgesteckter Zunge vor. Hilft aber vermutlich auch nicht gegen die bucklige Verwandtschaft bzw die Zwangsbetrachtung königlicher Hochzeiten.
was heißt hier Zwangsbetrachtung?
Ist doch hübsch, wenn sie so Anteil nimmt.
Und derweil nicht ständig fragt „Na, Kind, wann isses denn bei dir soweit?“
Für Unsaomma sind Viktoria und Daniel Teil der Familie – in ihrem Herzen. Gemeinsam mit „Bild der Frau“, dem „Goldenen Blatt“ und der „Neuen Post“ durchlebt sie bereits die zehnte Schwangerschaft der Prinzessin.
Für Unsaomma
http://myroyal-myroyals.blogspot.com/
Nein, wie schön. Eine Seite, wie für Unsaomma gemacht. Jetzt muss ich ihr nur noch das Internet beibringen. Bis dahin werde ich mir die Seite mal bookmarken. Zu Recherchezwecken.
Wenn Sie Ihrer Frau Mutter ein ipod schenken, hat sie ja die Möglichkeit mit der Omma ‚My Royals‘ zu gucken. So wären zwei Fliegen mit einer Klappe erledigt.
Nur nicht auf’m Klo bitte. Die Dinger schwimmen nicht.
Zicke-Zacke..?
Köstlich!
Erinnert mich an meine Uroma in den 80ern.
Guten Rutsch noch.
aaaaahhh…
Mein Leben lang begleitet mich meine Mutter mit diesem Spruch: „Ich kauf kein Recycling-Klopapier. Da denk ich immer, da hätten sich schon Leute den Hintern mit abgewischt.“
Meine Mutter ist Zahntechnikerin und erzählte uns früher Gruselgeschichten über künstliche Zähne, damit wir unsere Beißerchen besser pflegen.
In einer merkwürdigen Denkschleife sah ich gerade Ihre Oma mit einem Recycling-Gebiss. Buah, mich gruselt’s.
Vielleicht könnte sie sich zur Überbrückung auch eins mit jemandem teilen.
Da muss ich grade an die alte Ehepaar-Broetchenhaelften Diskussion denken: „Ich haette auch gern mal die Oberseite…“
…nicht schön.
Meine Großeltern hatten früher ein gutes, altes Plumpsklo (wo ich als kleines Kind immer Angst hatte reinzufallen), da wäre das nicht passiert. Nicht jede Erfindung ist ein Segen…
Ich vermag mir die Situation vorzustellen. Großartig, wenn auch tragisch.
…hühnerkacke ;)
Bei mir waren die Feiertage …… irgendwie seltsam.
Meine Oma (mütterlicherseits) ist dieses Jahr gestorben und mein Opa (väterlicherseits) auch.
Trotzdem hatten wir eine ruhige, gelassene Stimmung im Haus meiner Eltern. Ich hatte zugegebenerweise etwas Angst, dass es traurige Feiertage werden, aber nein es waren sehr schöne Tage.
Ist ja eigentlich eine lustige Begebenheit die du da erzählst, ich fand es aber immer ein wenig „gruselig“ wenn meine Oma die „Dritten“ nicht drin hatte.
Noch gruseliger ist es, wenn sie nebendran im Glas schwimmen. Irgendwie denke ich immer, das Gebiss lebt.
Unsaoppa (bereits 92) hat auch einen fahren gelassen, aber anständigerweise auf der Toilette.
Da wir aber in einer angemieteten „Location“ waren, befanden sich auf der Toilette 2 Toiletten nebeneinander (mit Trennwand und Tür natürlich). So kam es aber, dass mein Sohnemann zufällig gerade gleichzeitig nebenan sass und die Geräusche laut und deutlich vernahm. Das fand er am nächsten Tag (zum Glück nicht vor versammelter Familie) sehr erzählenswürdig :-)
Und der Oppa hatte ebenfalls Probleme mit den Zähnen, denn er hatte kurz zuvor den allerletzten noch echten Zahn verloren, so dass nun das Gebiss nicht mehr richtig hielt…..
Es waren aussergewöhnlich ruhige Weihnachten dieses mal…….
Yes, we are Hoppenstedt :-)
Grüsse
asty
Die Sache ist: Unsaomma hört so schlecht, dass sie denkt, sie hätte ganz leise gekoffert. In Wirklichkeit aber wackeln die Wände.
Sie sind mit dem Text von den Sissi-Filmen nicht weit weg. Grosses Drama (Zaehne), grosse Gefuehle (der Kalender bekommt ja quasi einen Ehrenplatz, wenn das nicht stolz macht), Dinge passieren in der Familie und doch bodenstaendig. Kein Wunder, dass Sie sich da fuehlen, wie in einem Film (wenn auch ’nem anderen).
//Und positiv gesehen: Haende vor die Augen, Zunge raus und gegen Sachen treten duerfen – das ist gar nicht so schlecht gelegentlich.
Früher war auch mehr Lametta…
Hätte mir gerne die Augen zugehalten, weil ich befürchtete, dass irgendwer nach den Beißerchen geangelt hat, aber dann hätte ich nicht weiterlesen können…
Dann möge Ihre EuerOmma mal fix neue bekommen, aber echte neue!
Der Zahnarzt kommt erst im neuen Jahr und nimmt Abdrücke. Bis dahin muss sie ihren Brei auf der Felge kauen.
[…] “Zweiter Weihnachtstag. Besuch bei Unsaomma. Als ich ihr Zimmerchen betrete, sieht sie seltsam abgezehrt aus. Ihr Mund ist eingefallen. Sie schmatzt mit hohlen Wangen an einem gestippten Keks.” Draußen nur Kännchen: Früher war mehr Lametta […]
[…] Ich habe meine Diss abgegeben, und wo ich schonmal frei hatte, bin ich zu Unsaomma gefahren, um nachzusehen, ob sie wieder Zähne hat. Denn Sie erinnern sich vielleicht: Unsaomma hat ihr Gebiss ins Klo fallen lassen. […]