Klaviermusik in der Einkaufsstraße.
Zwischen Parfümerie und Papeterie sitzt ein junger Bursche an seinem Instrument. Er trägt Sweatshirt und Jeans. Seine Chucks drücken wippend die Pedalen nieder. Er ist vielleicht 18 oder 19 Jahre alt und spielt Chartmusiken.
Ich bleibe stehen. Er spielt gut. Schnell bildet sich eine Traube kichernder Mädchen in seinem Rücken. Geschminkte Frauen mit Lederhandtaschen bleiben stehen, ebenso Familien mit Kindern. Ein Bettler auf Krücken kommt herangehumpelt. Er hat nur ein Bein. Sein Stumpf steckt in einer ausgeleierten Jogginghose, die ihm fleckig um den Körper hängt.
Der Bursche spielt jetzt „Numb“ von Linkin Park. Die jungen Mädchen necken sich, schubsen sich zu der roten Mütze mit den Geldstücken, werfen Münzen hinein, lächeln schüchtern dem Musikanten zu und hüpfen übermütig wieder zurück zu ihrer Gruppe. Die Damen mit den Lederhandtaschen unterhalten sich leise miteinander, blicken zum Klavier und nicken anerkennend, als seien sie in der Oper.
So stehen wir eine Weile da. Coldplay, Nirvana und nochmal Linkin Park, diesmal Crawling.
Nach 20 Minuten verbeugt sich der junge Musiker und klappt den Deckel auf die Tastatur. Die Mädchen stehen ein bisschen unschlüssig herum, dann gehen sie untergehakt davon. Die Handtaschendamen zerstreuen sich.
Als der Klavierspieler gerade seine Mütze einstecken möchte, humpelt von hinten der Bettler heran, stoppt, klemmt seine Krücke unter, fischt zehn Cent aus seiner schlabbrigen Hose und legt sie in die Mütze. „Mach deinen Weg. Ich hab’s nicht geschafft“, sagt er und berührt den Burschen flüchtig mit der freien Hand an der Schulter.
Dann nimmt er seine Krücken, dreht sich um und hinkt fort.
Kommentare
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Wahnsinn. ich stünde noch immer mit offenem Mund da.
Der zitierte Satz des Bettlers ist in der Flut der Informationen, die man sich täglich um den Kopf rauschen lässt, wie ein zu hoch stehender Pflasterstein, über den man ein wenig stolpert und kurz sein Gleichgewicht sucht.
was für eine wunderbare Geschichte! sie hat mich sehr berührt.
boah.. ich hab gerade gänsehaut
Danke. Ergreifende Geschichte und gut geschrieben noch dazu.
Erinnert mich an eine die Episode „Im Vorübergehen“ aus Maximilian Buddenbohms Herzdamen-Blog:
http://www.herzdamengeschichten.de/2009/06/30/im-voruebergehen/
Die Welt ist nicht so böse, wie wir manchmnal denken. Man muss bloß besser hinschauen und mit gutem Beispiel vorangehen. Es lohnt sich.
„Schluck!“
Das war mein erster Gedanke. Ich habe wirklich des Wort als solches im Erikativ (Inflektiv) gedacht. Kein gerührtes schlucken, sondern ein Ausdruck des Sprache verschlagenden Staunens, das mich als immer zynischer und sarkastischer werdenden Menschen aus seinem Schubladenweltbild herausreißt.
Aber nur kurz.
Dennoch: Danke.
Schön, dass es noch möglich ist, Dich aus Deinem Schubladenweltbild herauszuholen. Vlt schaffst Du es auch noch, die Entwicklung, immer zynischer und sarkastischer zu werden abzuändern. Ein intelligenter Mensch wie Du kann sicher viel Gutes bewirken, denn es gibt nichts Gutes – außer mensch tut es und Du kannst nicht die Welt oder die anderen verändern, sondern nur Dich selbst.
Gruss und einen guten Wochenstart
Verdammt, im Kontext dieser Geschichte klingt das jetzt furchtbar unsensibel.
Aber Linkin Park, interpretiert nur mit Klavier und Stimme, das hätte ich furchtbar gerne gehört…
Er spielte vielleicht nicht perfekt, aber im Kontext der Einkaufsstraße, inmitten der umherflanierenden Leute wirkte es ziemlich gut.
Ich hab da was im Auge… und Gänsehaut.
Wunderschön geschrieben und konzipiert – und einfühlsam diesmal ;)
LG und einen guten Wochenstart
Ich musste schlucken, als ich diese Geschichte gelesen habe. Und eine Runed Gänsehaut kam auch noch dazu. Sehr schön geschrieben, Kompliment.
schön.
Frau Nessy, ich bin immer wieder beeindruckt von Ihrer Fähigkeit, wunderbare kleine Alltagsgeschichten so zu beschreiben, dass ich nur denken kann „Oh, wie schön“.
Hühnchenpelle.
Hut ab. Sehr anständiger Kerl!
Ja und! Wir kennen den Bettler doch gar nicht. Und die herumstehenden Frauen, die den jungen Musiker bewunderten. Haben die ihm auch etwas in seine Mütze geworfen? Batürlich finde ich das Beobachtete schon bemerkenwert.
Die Handtaschenfrauen haben nichts in die Mütze geworfen.
Die geben auch das wenigste Trinkgeld, wenn überhaupt.
Liebe Frau Nessy, ich ziehe meinen Hut vor ihrer Schreibkunst.
Arschkrampen. Das hab ich gedacht. Mal wieder typisch, schade das.
Und ich hätt ihn auch sehr gern gehört…
In der Not wird auch das letzte geteilt! Das zeigt größe !
Schnief…
Fein beobachtet und in Worte gefasst haben Sie das.
PS.: Sarkastisch und zynisch lese ich Sie auch gern…
Alles zu seiner Zeit und Gelegenheit …
Danke schön!
Das Zehncentstück hätt‘ ich mir eingerahmt.
Liebe Nessy,
von mir kommt diesmal ein doppeltes WOW!
Zum einen zum Erlebten an sich. Der Bettler zeigte wirklich menschliche Größe, die vielen Menschen (z.B: den Handtaschen-Hühnern) leider heute im Alltag fehlt. Waren „zwar nur“ 10 Cent…aber immerhin…die Geste an sich ist ein Vielfaches wert.
Das zweite WOW geht an Sie. Ich könnte mich hier stundenlang festlegen und würde nur einmal im Leben gerne so schreiben können.
Danke, das wir an Ihren Erlebnissen teilhaben dürfen (was jetzt nicht als Schleimspur gedacht ist – Sie müssen also nicht mit Eimer und Schrubber hantieren – , sondern ehrlich gemeint ist und aus dem tieftsen Inneren kommt)
Danke!
Gänsehaut und feuchte Augen.
Was für ein Erlebnis.
eine berührende Geschichte zum thema „Menschlichkeit“
Bravo!
Und wieder die Frage: Erleben Sie sehr viel mehr solch toller Geschichten als andere oder schauen / hören Sie einfach nur besser hin als 99% der Bevölkerung (mich eingeschlossen)?
Wie dem auch sei: Schöne Geschichte und toll geschrieben!
Ich schaue vielleicht genauer hin. Und nehme mir einfach die Zeit.
Irgendwie sieht man die Szene vor sich.
Schön beschrieben !
Ist die Überschrift nicht auch eine englische Redensart ?
Just my 2 cents oder so ?
Passt auf jedenfall alles sehr gut zusammen, besonders der leicht wehmütige Unterton gefällt mir.
Sie sind ein Checker, Herr Lobo.
Ein sehr schöne Geschichte! Es gibt mitunter Momente, in denen wir einander berühren und erkennen, ohne uns vorher gekannt zu haben. Was das angeht, ist mir kürzlich etwas ähnliches passiert (http://www.felismajor.net/2011/eine-minute-berlin/), aber ‚Ihr‘ Bettler hat noch ein ganz anderes Kaliber …
Uff.
Wo erleben sie nur immer solch dramturgisch wertvollen Sachen ??? Die Bettler in unserer Stadt können nichtmal mehr gerade laufen, geschweige denn, dass sie 0,10 Cent hätten…
Leider bin ich selbst manchmal viel zu realistisch, um mir über solche Szenen des Lebens Gedanken zu machen, u.a. deswegen lese ich ihren Blog *g*, er ist manchmal so schön melancholisch.
LG Carola
Dieser Text ist definitiv schon einmal ein Höhepunkt des Tages. Danke.