Bei uns zu Hause bringt das Christkind die Geschenke.
Nach dem Frühstück am Heiligen Abend brachen mein Vater und ich stets zu vorgeschobenen Erledigungen auf. Unter anderem besorgten wir Baguette für das abendliche Mahl und aßen danach in einer Pommesbude zu Mittag. Beides war eine Attraktion: mit meinem Vater einkaufen gehen und ungesunde Pommes essen – und deshalb schon für sich genommen ein Geschenk.
Wenn wir am frühen Nachmittag nach Hause zurückkehrten, waren wir bis zum Stehkragen voll mit Ketchup und Fritten (in dieser Reihenfolge) und das Wohnzimmer still, dunkel und abgeschlossen – damit das Christkind kommen konnte. Denn das Christkind kommt nur, wenn keiner guckt.
Für den Rest des Nachmittags saßen wir in meinem Kinderzimmer auf kleinen Stühlen, tranken Kaffee, aßen Plätzchen und spielten Spiele. Mein Vater schlief, der Schnitzelstarre erlegen, auf meinem Bett ein und schnarchte.
Als wir am Abend nach der Messe nach Hause kamen, verschwand meine Mutter sofort im Wohnzimmer, um dem Christkind beim Kerzenanzünden zu helfen. Der Rest der Familie musste draußen bleiben. Weil Durchs-Schlüsselloch-Gucken verboten war und Fehltritte streng geahndet wurden, saß ich in der angrenzenden Küche auf der Arbeitsplatte, baumelte nervös mit den Beinen und lauschte den Geräuschen hinter der Wohnzimmertür. Erst nach gefühlten 100 Minuten, wenn Mutter und das Christkind fertig waren, bimmelte ein Glöckchen, und wir durften eintreten. Ich war natürlich die erste an der Tür – und betrat das lichterglänzende Wohnzimmer doch mit Scheu und Ehrfurcht.
Bald erreichte ich ein Alter, in dem ich mir gewisse Fragen stellte:
Wie kam das Christkind Anfang Dezember an meinen Wunschzettel, den ich immer innen auf mein Fensterbrett legte?
(Mutter: „Es kann durch Glas fliegen.“)
Wie kam das Christkind an Heiligabend in unser Wohnzimmer?
(Mutter: „Ich lasse die Balkontür offen.“)
Wo es aber Anfang Dezember noch durch Glas fliegen konnte! Erster Widerspruch.
Wie kann es gleichzeitig so viele Kinder auf der Welt beliefern?
(Mutter: „Wegen der verschiedenen Zeitzonen auf der Erde muss es das nicht gleichzeitig machen.“)
Das klang schlüssig.
Warum kann das Christkind die Kerzen nicht alleine anzünden?
(Mutter: „Weil es noch ein Kind ist, und Kinder dürfen nicht mit Feuer spielen.“)
Na klar.
Warum dürfen nur Mütter dem Christkind helfen?
(Mutter: „Darum.“)
Das war verdächtig.
Nach Abwägen aller Widersprüche war Sherlock Nessy klar: Es gibt Ungereimtheiten in der Causa Christkind. Allerdings gibt es auch keine stichhaltigen Beweise für die Nicht-Existenz des Christkindes. Im Grunde gibt es sogar gute Gründe für das Christkind: Denn woher kommen die Geschenke, während wir in der Messe sind?
Bis ich acht oder neun war, glaubte ich ans Christkind. Daran konnten selbst meine Schulkameraden nichts ändern.
Kommentare
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Schlussendlich wollte man es auch nicht wahr haben…
Das Vertrauen in die Eltern war größer als in das Geschwätz der Nachbarskinder.
Hach… das ist doch schön so! Ich liebe solche Traditionen! (Und Deine Schilderungen dazu waren mal wieder köstlich zu lesen!)
Liebe Grüße und wunderbare Weihnachtsfeiertage,
Michaela
Ihnen auch, Frau Michaela!
Bei uns war es der Weihnachtsmann, der irgendwann ganz profan enttarnt wurde.
„Du Weihnachtsmaaaaaann ? Wieso hast du denn Papas Schuhe an ?“
Ich wünsche auch allen die es lesen, geruhsame Weihnachtsfeiertage ! :-)
In meiner Kindheit gab es niemals verkleidete Weihnachtsmänner. Nur einmal kamen der Nikolaus und Knecht Ruprecht in den Kindergarten – was mich nachhaltig verschreckt hat.
Einen „Weihnachtsmann“ gab es lange Zeit ohnehin nicht. Es gab den Nikolaus und das Christkind.
Mein Sohn hat diese Fragen nie gestellt; ich hätte sie aber ähnlich beantwortet wie Mutter Nessy.
Sohn (damals 4) simulierte am 23.12. spätabends Tiefschlaf, um uns dann heimlich beim Baumschmücken und Geschenkeinpacken zu beobachten und anschließend mit dem entrüsteten Ausruf „HA! Habe ich mir doch gedacht, dass ihr das macht und NICHT das Christkind!“ zu Tode zu erschrecken.
Ich habe mich einmal am Abend des 5. Dezember im Treppenhaus auf die Lauer gelegt, um Jagd auf den Nikolaus zu machen. Bevor ich eine Entdeckung machen konnte, bin ich allerdings auf den Stufen eingeschlafen.
Ich fand es als Kind seltsam, nicht ins Wohnzimmer zu dürfen, um den Baum nicht zu sehen. Brachte denn der Weihnachtsmann auch den Baum? Wie schaffte es der Weihnachtsmann, alle Geschenke zu tragen?
Welches Kind stellt sich diese Fragen und erwartet tatsächlich eine Antwort. Als Kind will man doch betrogen werden. Wie später als Erwachsener auch, nur da sind die Politiker die Weihnachtsmänner, sinnbildlich und buchstäblich.
Meine Eltern haben mir erklärt warum die Tradition
Weihnachten gefeiert wird , doch den Weihnachtsmann
gab es im Krieg sowieso nicht , und später!Mein Kind habe ich nach der ersten Frage aufgeklärt.Kinder wollen
nicht betrogen werden ,doch die Eltern haben Ihren Spas daran . Für wie Dumm hält ,mann eigentlich die Kinder.
Noch schlimmer isr der Eier legende Osterhase.
Kinder lieben Mythen. Ich habe die Idee von Nikolaus, Christkind und Osterhase gemocht, das Geheimnis, das um sie gemacht wird, und der besondere Zauber, wenn plötzlich Geschenke da waren. Ich habe auch kein Trauma erlitten, als ich herausfand, dass es alle drei Figuren nicht gibt. Die Erkenntnis fügte sich nahtlos in weitere Entzauberungen des Heranwachsens ein.
Sehr schoen, vor allem auch im Kontext mit den anderen Episoden. Man sieht, dass die Welt vor der klaren, stringenten Logik eines Kinds eben doch ein sehr seltsamer Ort ist, an den man sich einfach nur gewoehnt hat.
frohe weihnachten, liebe nessy,
genieß die tage und lass es dir und den deinen gut gehen :lol:
alles liebe, weihnachtswolf
Liebe Frau Weihnachtswolf,
Ihnen auch frohe Festtage!
Die Freude (das Licht, den Geruch, die Aufregung) beim Betreten des Wohnzimmers, mit den aufgereihten Geschenken und dem bislang ungesehenen Weihnachtsbaum, werde ich nie vergessen.
Sollte man auch nicht – kommt so nicht wieder. Aber die Erinnerung bleibt.
Ihnen schöne Weihnachten, Frau Nessy
(Mögen Sie auch die späten Nachmittagsstunden des 24. Dezember so? Wenn die Straße, die Stadt, das Land langsam ruhiger werden, weniger Autos fahren, die Menschen in ihren warmen Wohnungen sitzen und die Kinder aufs Christkind oder den Weihnachtsmann warten? Diese Ruhe, die nur 1x im Jahr herrscht?)
Bei uns war Weihnachten immer die Ruhe nach dem Sturm.
Wenn man in einer Einzelhandels/Buchhändlerfamilie aufwächst, beginnt Weihnachten erst am 24. Dezember um 13:00 Uhr.
Ja das habe ich immer geliebt, meine Eltern hatten mit einem Mal Zeit, der Weihnachtsbaum, das gute Essen, die Aufregung und das zufriedene Seufzen wenn alles vorbei ist.
Ich glaube Weihnachten ist ein Fest für Kinder, bei den Erwachsenen ist es zu sehr Pflicht und Aufgabe.
@Frau Nihilistin: Der Nachmittag des Heiligen Abends ist toll: Leise, besinnlich, den Atem anhaltend. Dieses Jahr liegt auch noch Schnee dazu, der alles noch viel ruhiger macht.
@Herr Lobo: Weihnachten ist auch für Erwachsene ein tolles Fest, wenn man die Zusammenkünfte mit der Familie liebt und sich von überzogenen Erwartungen verabschiedet hat.
Am Schönsten ist ja dabei, dass die Kleinen nicht nachtragend sind und einem trotzdem noch weiterhin Dinge glauben. Umgekehrt .. naja, seit ich meine Mama an ihrem runden Geburtstag verschaukelt habe, glaubt sie mir nichts mehr.
Jetzt erzählen Sie schon. Nur andeuten und dann den Kommentar abschicken – das geht nicht.
Liebe Nessi,
ich wünsche Ihnen ein schönes Weihnachten mit vielen Erinnerungen, die es für uns Erwachsene auch wieder verzaubert!
Ihre Susel
Liebe Nessy,
Dir auch frohe Weihnachten und einen guten Rutsch!
Übrigens, ich habe das Christkind gesehen“
http://sweetkoffie.wordpress.com/
GLG Sweetkoffie
Schöne Geschichte!
Aber ein Christkind, das zu Fuß kommt?
Danke!
nochmal: schreiben sie bitte endlich ihr buch, frau nessy …
Nach der Diss, Herr Doktor.
Hier haben wir den ersten Heiligabend hinter und, an dem keines unserer Kinder noch an den Weihnachtsmann glaubt und ich konnte meinen Kindern erzählen, daß es zu meiner Zeit das Christkind war, das die Geschenke brachte. Seitdem ich Kinder habe erzählt jedes Jahr ein Erwachsener eine Weihnachtserinnerung aus seiner Kindheit. Das ist eine Tradition, die meinen 10-, 13- und 20-jährigen Kindern mittlerweile fast wichtiger ist als die Geschenke (aber nicht als die Plätzchen und das Weihnachtsessen :)
Ihnen eine frohes Fest, Frau Nessy. Sie müssen Weihnachten bei Ihrer Liebe für Kekse ja besonders schätzen :D
Oh ja.
//*lacht
Die Geschichten der Alten und Älteren sind das Schönste am Beisammensein. Toll, dass es bei Ihnen auch so ist.
Früher, also wir noch Kinder waren, wurde am 24. nachmittags der Weihnachtsbaum gemeinsam geschmückt. Vater hat geholfen, Mutter hat in der Küche das Essen vorbereitet. Im Fernseher lief dazu „Wir warten aufs Christkind“.
Irgendwann, früher Abend, kamen die Grosseltern dazu. Dann durften wir Kinder nicht mehr ins Wohnzimmer und warteten in der Küche auf die Glocke….
Sobald diese ertönte, stürmten wir ins Wohnzimmer und sahen den mit echten Kerzen erleuchteten, wunderschönen Weihnachtsbaum mit all den Geschenken darunter!!!
Es wurde gegessen, Geschenke ausgepackt, die Pflicht erfüllte (Lieder gesungen).
Ob ich jemals ans Christkind geglaubt hatte, weiss ich nicht mehr, ist auch egal. Wichtig ist diese wunderschöne Erinnerung an meine Kindheit, als die Welt noch heil war…
Dieser Zauber ist mittlerweile eine Erinnerung an vergangene Tage. Neben der Tatsachen, dass ich zwischenzeitlich Erwachsen geworden bin, sind nach und nach die Grosseltern und mein Vater verstorben.
Weihnachten hat sich von dem zauberhaften, glücklichen Familienfest zu einem von König Kapitalismus zur Perversion geschändeten Kommerz-Event gewandelt.
Mutter besteht auf wenigsten ein paar kleine Geschenke, weil es halt so brauch ist.
Sie versteht nicht, dass ich heutzutage lieber nichts geschenkt bekomme: Die geschenkte Schokolade trägt nämlich nicht zu meiner Gesundheit bei…
Der Preis des Erwachsenseins, keine Armut zu kennen, sich jederzeit alles selber leisten/kaufen zu können, zu wissen, dass es kein Christkind gibt, bezahle ich mit dem Verlust des Zaubers der Weihnachten.
Weihnachten finde ich eigentlich z.K..
Einzig, wenn ich irgendwann einmal eigene Kinder haben werde, erachte ich es als eine meiner wichtigsten Aufgaben, ihnen Weihnachten so zu präsentieren, dass auch sie wenigsten in der Kindheit dieses Fest mit all dem Zauber und den schönen Erinnerung geniessen können, dass sie genauso strahlend vor dem Weichnachtsaum stehen, wie ich damals. Dass für sie in dem Moment die Welt in Ordnung ist und schöner nicht sein könnte.
Dazu gehört auch das Christkind, Nikolaus und der Osterhase…
Sie meinen, Weihnachten kann für Erwachsene nicht schön sein?
Ich finde den Brauch, sich etwas zu schenken, sehr schön. Dabei geht es nicht um den Wert des Geschenks, sondern darum, mit dem Geschenk zu zeigen, dass man einem lieben Menschen das Jahr über zugehört und seine Wünsche wahrgenommen hat – um vielleicht einen kleinen Wunsch davon zu erfüllen. Das hat für mich nichts mit Kommerz zu tun (auch wenn viele Menschen leider um den Schenkens willen schenken).
Der Zauber geht natürlich ein wenig verloren – gerade wenn die Menschen sterben, die diesen Zauber vollbracht haben. Dann ist es vielleicht unsere Aufgabe, selbst zu zaubern – für die Kinder.