Situation | „Hättest du gewonnen“, sagte der Reiseleiter beim Frühstück, während er in der Tageszeitung blätterte, „wäre gestern dein erster Tag als Bürgermeisterin gewesen.“ Er biss ins Brötchen. „Aber mit dem kranken Schwein wäre das natürlich nicht gegangen.“
„Ich hätte es mitnehmen müssen“, sagte ich. „Wir wären gemeinsam vereidigt worden.“ Mit einem Meerschwein unterm Arm hätte ich auf die Verfassung geschworen.
Zu Beginn der Woche war die Tierärztin noch sorgenvoll. Da sei etwas im Schweinehals, das auf die Speiseröhre und den Kehlkopf drücke – im besten Fall der weiter abheilende Abszess, im schlechtesten Fall ein Tumor. Der Dicke konnte tatsächlich schlecht schlucken und nahm trotz großen Hungers weiter ab – außer, man reichte ihm Brei an. Er konnte auch nicht pfeifen. Immer, wenn er ansetzte, kam nur ein „Pffff“ aus seiner Kehle. Würdelos.
Wir spülten und päppelten also weiter. Er bekam nur das Beste zu knabbern: von der Paprika das Kerngehäuse, vom Brokkoli die zartesten Röschen, dazu Heubrei. Ein Schwein mit Pflegegrad Zwei – vor meinem inneren Auge formte sich eine Zukunft, in der wir ihm bis an sein Lebensende Passiertes anreichen.
Heute Wiedervorstellung in der Praxis – wir bekommen inzwischen Sondertermine und werden begrüßt mit: „Das ist ja mein liebes Schwein!“ Das große Schweinewunder ist eingetreten: Die Schwellung ist fast weg. Er bekam noch eine Ladung Kortison. Ansonsten ist er genesen. Seit zwei Tagen frisst er auch wieder allein und hält sein Gewicht.

Danke für die zahlreichen Genesungswünsche. Selbst Geschäftstelefonate begannen mit: „Bevor wir zu unserer Sache kommen … wie geht es dem Schwein?“
Gelesen | Das Vermächtnis von Liesl Schwab
Gelesen | Der siebte Tag – Der Herbst der schlechten Laune, Newsletter von Niels Minkmar
Gelesen | Interview mit dem europäischen Politikwissenschafter Vicente Valentim zum Rechtsruck in Europa [€]. Er kommt zum Schluss, dass die Menschen, die eine rechtsextreme Partei wählen, schon immer rechtsextrem waren – es also nicht zu einer Änderung der Einstellung gekommen ist.
Es herrscht die falsche Annahme, dass viele Wähler, die früher Mitte-rechts-Parteien gewählt haben, im Herzen noch immer Mitte-rechts sind. Meine Arbeit legt aber nahe, dass diese Menschen schon vorher extrem rechts gedacht haben. Es gab nur keine Partei, die diese Positionen glaubwürdig und erfolgversprechend vertreten hat. Jetzt haben sie eine Partei, die viel stärker mit ihren wahren Ansichten übereinstimmt.
Sein Blick in die Zukunft stimmt pessimistisch:
Es führt leider kein Weg zurück in die Zeit vor der Normalisierung der AfD. Warum sollte jemand, der jetzt extrem rechte Ansichten vertreten kann, zu einer Situation zurückkehren wollen, in der diese Ansichten wieder tabuisiert sind? Und warum sollte ein Politiker einer extrem rechten Partei, der weiß, dass er jetzt gewisse Dinge sagen kann, damit wieder aufhören? Die Wahrheit, die wir anerkennen müssen, ist, dass viele Menschen so denken und dass sie ihre Ansichten so schnell auch nicht wieder ändern werden.
Leser’innenfrage | Eine Frage aus der Themen-Vorschlagsliste: „Du wirkst so angekommen in deinem Leben und resilient gegenüber eventuellen Unwägbarkeiten. Wie kommt man da hin? Vorallem, wenn man Jobwahl (fachlich) nach oder seit über 20 Jahren infrage stellt?“ Die zweite Frage verstehe ich nicht ganz. Ich fange bei der ersten an.
Ich bin jetzt 47 und habe schon einiges im Leben erlebt, habe geliebt, mich entliebt und wieder verliebt, habe mich durchs Studium bis zur Promotion gekämpft, mich selbst in den Hintern getreten, habe viel gearbeitet und dabei viel gelernt, habe Tote gesehen und im Sterben begleitet, habe mit depressiven und psychotischen Angehörigen gerungen, habe Neues gewagt, Altes zurückgelassen und hatte viele Situationen, in denen ich an meinen Grenzen war, körperlich und emotional. Dabei habe ich drei Sachen gelernt: Es geht weiter. Ich kann mich auf mich verlassen. Ich habe es in der Hand. Der letzte Satz irritiert vielleicht, denn natürlich habe ich nicht alles unter Kontrolle, was mir widerfährt. Aber ich kann entscheiden, wie ich damit umgehe.
- Ich habe mich irgendwann aktiv entschieden, glücklich zu sein. Ich schaue auf das, was ich habe und bin dankbar dafür: Freunde und Familie, gutes Essen, ein schönes Zuhause, gesunde Luft zum Atmen, Natur, Sicherheit, Trinkwasser, ein gutes Gesundheitssystem, gute Bücher … – es kommt einiges zusammen, auch wenn es gerade mal nicht läuft.
- Ich pflege Freundschaften – auch auf Distanz. Ich empfinde soziale Beziehungen unglaublich wichtig für die mentale Gesundheit. Das ist manchmal anstrengend, gerade wenn Freund:innen sehr verteilt wohnen, aber das Gefühl von zugehörigkeit trägt mich durch schwierige Zeiten.
- Der Mist, der uns im Leben widerfährt, widerfährt uns sowieso. Es hat nichts mit uns zu tun, es ist kein Schicksal, keine Bestrafung. Das Gute allerdings widerfährt uns, weil wir es herbeiführen.
- Ich bin gleichzeitig total diszipliniert und total undiszipliniert. Ich bin sehr strukturiert, priorisiere hart und organisiere mich gut – zum Beispiel im Beruf. Ich denke, Disziplin hilft, resilient zu werden: Äußere und innere Ordnung bedingen sich. Gleichzeitig sollte man gut zu sich sein und sich Pausen gönnen. Dann bin ich total undiszipliniert und lebe in den Tag hinein.
- „Glückliche Menschen haben ein schlechtes Gedächtnis und reiche Erinnerungen“, sagt man. Das trifft es. Ich hadere nicht – nicht mit mir, auch selten mit anderen Menschen. Ich bin nicht nachtragend, nie gewesen. Groll belastet nur mich, nicht den anderen.
- Ich vergleiche mich wenig. Eher schaue ich positiv: Was kann ich von anderen lernen?
- Ich lebe fortlaufend mit Unwägbarkeiten. Allein die berufliche Situation als Selbstständige ist voller Unsicherheiten, gerade jetzt in der Wirtschaftskrise. Ich halte es für wichtig, wenn Emotion und Ratio sich die Waage halten. Es fühlt sich schlecht an, aber ist es auch schlecht? Welche guten Hinweise geben mir meine Gefühle – und wo sind sie auf dem Holzweg? Ich denke, es ist wichtig, die eigenen Gedanken und Gefühle zu lenken – nicht umgekehrt.
- Ich habe mich irgendwann entschieden, wohlwollend zu sein – auch gegenüber Menschen, mit denen ich nicht auf einer Wellenlänge bin. Sie haben meist gute Gründe, warum sie so handeln, wie sie handeln. Ich muss diese Gründe nicht teilen. Aber ich rege mich auch nicht unnötig darüber auf, sondern versuche, emotional unabhängig zu bleiben. Das spart eine Menge Energie.
Ich bin ein Mensch, der Gelegenheiten ergreift und Herausforderungen mag. Passiert länger nichts, wird mir langweilig. Ergibt sich eine Möglichkeit, schaue ich sie mir an. Oft ergreife ich sie. Dadurch haben sich schon viele tolle Dinge ergeben, ich habe unglaublich viel gelernt und tolle Menschen kennengelernt. Und wenn ich Zweifel hatte, ob ich etwas schaffe, denke ich mir: „Es gibt jemanden, der mir das zutraut. Also muss etwas dran sein.“
Hat das auch die zweite Frage beantwortet? Falls nicht, einfach nochmal nachfragen.
Und sonst | Konzert in Köln. Wir haben The Offspring bei der Berufsausübung zugehört. Das war schön.

Wir sind inzwischen einem Alter, in dem wir hoffen, dass „viele alte Lieder“ gespielt werden.
Schweine | Das obligatorische Schweine-Schlussbild jenseits der aktuellen Gesundheits-News: Man flaniert wieder gemeinschaftlich.

Kommentare
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„Ich habe mich entschieden, wohlwollend zu sein.“ Welch eine großartige Lebensphilosophie! Dazu beglückwünsche ich Sie und werde versuchen, mir selbige zu eigen zu machen. Weiterhin alles Gute!