Wanderungen | Was ich an Bergen faszinierend finde, und das klingt zugegebenermaßen etwas skurril, ist, dass sie einfach so aus dem Boden wachsen. Vor einem liegen Felder, stehen Bäume, jemand hat ein Haus gebaut, und plötzlich erhebt sich dahinter die Welt, zweitausend Meter hoch, völlig ohne Grund. Ich meine, natürlich gibt es einen Grund, Plattentektonik und so, das wissen wir alle, die wir einigermaßen wach waren in der Schule, aber dennoch: Sie sind einfach so da. Manchmal stehen sie arg im Weg, die Berge, völlig unpraktisch, ein anderes Mal passen sie ganz gut, gerade wenn sich mehrere von ihnen aneinanderreihen und ein hübsches Gebirge bilden; dann hat man den Eindruck, es ergebe irgendwie Sinn.

In den vergangenen Tagen hat es wild geregnet, in den Bergen schneite es, und tags darauf, als die Sonne wieder schien, hatte man den Eindruck, als wollten die Berge sagen: Seht her, wir können es in Grün, in Grau und in Weiß! Die Touristen liefen durchs Tal und fotografierten die unterträglich idyllische Kulisse: Im Vordergrund Häuser, traditionelle Bauten mit Holzbalkonen und Schnitzereien, mit Geranien und religiösen Gemälden, das ganze Foto reine Folklore. Andere Menschen liefen die Berge hinauf und fotografieren von dort: Im Tal die kleine Stadt, im Hintergrund die Berge, heimelig bewaldet oder romantisch verschneit. Das waren wir.
Bei Antritt unserer Reise war die Wettervorhersage übel gewesen: Sieben Tage Regen, sechs Tage wilder Wind, nichts, was man dauerhaft aushält, vor allem nicht mit drei Teenagern in einer Ferienwohnung. Doch jeden Tag gab es Sonnenstunden, und jeden Tag konnten wir rausgehen und uns auslüften.

Wenn man in Garmisch-Partenkirchen ist, muss man durch die Partnachklamm laufen, egal wie oft man schon dort war. So will es das Gesetz. Also wanderten wir durch die Klamm, staunten und studierten alte Geschichten über die Holztrift, den Transport von Holzstämmen durch das Wasser der Schlucht. Hinter der Klamm stiegen wir in engen Schleifen hinauf auf den Eckbauer. Auf der Außenterrasse verköstigten wir Kaiserschmarrn und schauten auf die Berge, als justament Herr Stör ums Eck kam – er ist den meisten von Ihnen bekannt durch 16 Stunden Leid in Hamburg. Ein großes Hallo!
Kaiserschmarrn gab es noch ein weiteres Mal auf, nämlich auf der Tannenhütte, man braucht schließlich einen Vergleich. Der Tannenhütten-Kaiserschmarrn punktete durch die Absenz von Rosinen, auf dem Eckbauer war die Menge an Apfelmus auskömmlicher.
Einen dritten Wandertag verlebten wir kaiserschmarrnlos auf der Ruine Werdenfels. Wir begnügten uns mit Broten.






Friedhof | Wir besuchten auch einen Friedhof. Immer, wenn ich länger in fremden Städten bin, gehe ich auf einen Friedhof. Dort werden die Geschichten des Ortes erzählt – solche, die geschehen sind, solche, die vielleicht geschehen sind, und solche, die sicher nicht geschehen sind, die aber hätten geschehen können.
Geschichten, die geschehen sind, sind die vom Koserseppl, dem, so steht es auf dem Grabstein, Erstbesteiger des kleinen Waxensteins, und die von Anton Buchmeister, dem Schuhmachermeister, und Elisabetha, der, so ist es graviert, Schuhmachermeistersgattin. Direkt daneben befindet sich das Grab einer Bäckersgattin, deren Sohn in Griechenland verblich, kriegsbedingt. Wiederum daneben begegnen man einem Lohnkutschereibesitzer und seiner Lohnkutschereibesitzersgattin. „Es handelt sich um ein Lohnkutschereibesitzergattinnengrab“, konstatierte der Reiseleiter.
An anderer Stelle fragt man sich, und da wird es fantastievoller: Welch ein Mensch war wohl der Ostler Josef, genannt Duschn Seppl? Was hat sein Sohn, der Ostler Josef junior, der Duschn Sepp, ohne L, erlebt? Warum heißt er genauso wie der Koserseppl, der Erstbesteiger, der auch ein Ostler Josef war – ist das Zufall? Die Schuhmachersgattin Elisabetha war ebenfalls eine geborene Ostler – wie hängt das alles zusammen? Kannten die Ostlers wohl den Gretschn Hanne, der ein paar Meter weiter ruht – und wenn ja, mochten sie ihn oder eben grad nicht?
All diese Menschen, all diese Fragen liegen dem Besucher zu Füßen, im Wortsinne liegen sie da, die Leute und die Geschichten, und man möchte sie kennenlernen.
Leser’innenfrage | Eine Frage aus der Themen-Vorschlagsliste: „wie stehst du zu alles anderen außer heterosexualität? wie ist es in deinem freundeskreis? ich habe bei mir festgestellt, dass 100% anteil an hetero paare im freundeskreis nicht zu der statistik passen. ich werde meine bisexualität jetzt etwas mehr publik machen. vielleicht gibt das anderen die kraft die sie brauchen. lg aus berlin.“
Ich habe Menschen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis, die bisexuell sind, die schwul sind, die lesbisch und die hetero sind. Mir ist wichtig, dass all diese Menschen glücklich sind – ob mit einem Mann, einer Frau, mit Männern und Frauen, mit nonbinären Menschen, ob sie selbst nonbinär sind, Transmann, Transfrau oder cis, all das lasse ich bei ihnen. Ich freue mich, dass ich Teil ihres Lebens sein darf; ich freue mich, wenn wir über unsere Gefühle sprechen und wenn wir unsere Gedanken austauschen – manchmal zur sexuellen Idenität, meistens nicht. Denn, seien wir ehrlich, so spannend ist die Frage nicht, welches Geschlecht man präferiert. Viel spannender ist, was in einer Beziehung wichtig ist, warum manch einer lieber keine hat, andere dafür umso lieber, was gerade so los ist im Leben der Freundinnen und Freunde, wie es ihnen geht, welche Gedanken und Gefühle sie umtreiben und ob sie Waffeln lieber mit oder ohne Kirschen mögen.
Ich war so frei und habe die Frage an einen engen Freund weitergeleitet. Seine Antwort:
„Mach dem Jungen mal einen Teller Suppe warm, ich glaube der hat Hunger.“ Das waren die Worte meines Vaters an seine jetzige Frau, nachdem ich ihm erzählt habe, dass ich mich in einen Mann verliebt habe. Niemand, wirklich niemand hat mir etwas Böses gesagt, nachdem ich mich bei ihr oder ihm geoutet habe. Ich hatte mir völlig umsonst mein Outing in den schlimmsten Szenarien vorgestellt.
Nach der Suppe war die drängelte Frage meines Vaters, wie ich das über 48 Jahre ausgehalten habe, mein eigenes Ich zu unterdrücken. Er wollte wissen, warum ich mich dermaßen gequält habe. Das war seine einzige Sorge. Das ist jetzt ca. ein Jahr her. Eine Antwort habe ich bis heute nur bedingt. Ich bin nach der Scheidung meiner Eltern bei meiner Mutter aufgewachsen, und in der Familie gehörte es zum guten Ton, Witze über Schwule zu machen. Es war dort einfach nicht präsent, dass es abseits des traditionellen Familienbildes auch andere Lebens- oder Partnerschaftsmodelle gab. Auch in meinem Beruf als Soldat wollte ich nicht aus der Reihe tanzen und ließ diesen Teil von mir, der Männer und Frauen gleichermaßen sexuell anziehend fand, lieber im Dunkeln. Es gibt zwar immer mehr queere Soldatinnen und Soldaten, die dazu stehen. Aber ich würde auch heute noch sagen, dass es unter Umständen besser ist, wenn im Kreis der Kamerad*innen nicht alles Private bekannt ist.
Nur irgendwann kommt der Punkt, da kannst du nicht mehr dauend unterdrücken. Es schreit in deiner Seele und will raus. Und dann kam in meinem Fall einfach nur der richtige Mann zum Verlieben. Einfach so, ohne Vorwarnung. Und dann musste ich mich entscheiden. Er sagte zu mir den einen Satz, der für mich alles verändert hat: „Niemand wird an Dein Sterbebett kommen und sagen: Herzlichen Glückwunsch dafür, dass Sie so ein vorbildliches hetero-normatives Leben gelebt haben. Hier ist Ihre Medaille.“
Ich habe durch das Unterdrücken meiner Sexualität Menschen verletzt. Ich war zu den Frauen in meinen bisherigen Beziehungen nicht ehrlich. Das war einfach nicht fair. Das Unterdrücken meiner Bisexualität hat anderen, aber insbesondere auch mir Schaden zugefügt. Und daher kann ich aus heutiger Sicht nur sagen: Outen. Nicht unterdrücken. Zu sich selbst stehen. Sonst wird es in unserer Gesellschaft nie zur Normalität gehören.
Geguckt | Gemeinsam mit den Kindern: Gratwanderung – Zum Tode von Laura Dahlmeier. Während des Urlaubs kamen immer wieder Fragen zu Laura Dahlmeier, zu ihrer Wander- und Kletterleistung, zu ihren Todesumständen und warum sie nicht geborgen werden konnte. Ich habe sie geduldig beantwortet, denn ich finde es einerseits wichtig, den Tod als Teil des Lebens zu verstehen, andererseits konnten wir gut besprechen, dass Berge gefährlich sind, selbst für absolute Profis, und dass man besonnen und gut vorbereitet sein muss, wenn man in eine Bergtour startet.
Schweine | Kein Schweinebild mehr im Archiv.
Kommentare
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Herzlichen Dank für seine Offenheit an den Freund.
Auf den Wunsch hin, die Menschen hinter den Grabsteinen kennenzulernen, erlaube ich mir mal eine Buchempfehlung. Die Krimis von Jörg Maurer spielen genau dort: in der Partnachklamm, im Werdenfelser Land und nicht zuletzt auf dem Friedhof. Das sind intelligente, sprachgewaltige und witzige Regionalkrimis, mir am liebsten in der Hörbuchversion, gelesen vom Autor. Vielleicht hast du ja mal Lust zum Reinlesen oder Reinhören.
danke für den kommentar zur sexuellen orientierung und die tolle antwort des kompetenten freundes. was nicht alles passiert und gelebt wird „wegen der leute“, soviel erfüllung wird versäumt, viel energie verschwendet in geheimniskrämerei und lügen. glückliche menschen, die zu sich stehen, sind für alles wichtig, auch für demokratie. schönen urlaub wünscht roswitha