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Ein Ausflug in den Berliner Journalismus und Demokratie in der Kleinstadt

22. 9. 2024 1 Kommentar Aus der Kategorie »Tagebuchbloggen«

Exkursion | Wer mir auf Instagram folgt, hat in den vergangenen Tagen schon Bilder gesehen: Ich war in Berlin. Ich war auf Klassenfahrt.

Die Berliner Spress, dahinter das Paul-Löbe-Haus. Ein Schiff währe über den Fluss.

Ich bin Mitglied im Alumniverein des Dortmunder Journalistik-Studiengangs – zum Verbundenbleiben und auch, um Journalismus und den journalistischen den Nachwuchs zu fördern. Einmal im Jahr organisiert der Verein eine Exkursion für seine Mitglieder. Das Konzept: Leute, die mal in Dortmund Journalistik studiert habemn, besuchen andere Leute, die das auch mal getan haben.

So fuhren wir zum ARD Hauptstadtstudio und besuchten den dortigen Leiter Markus Preiß und seinen Chef vom Dienst Heiner Heller. Wir trafen Nora Schultz vom Deutschen Ethikrat. Wir waren beim Bundespresseamt, gingen danach zur Deutschen Umwelthilfe – hier ist der ehemalige Dortmunder Matthias Walter Pressesprecher – und besuchten die Akademie der Deutschen Welle und den Geschäftsführer Carsten von Nahmen. Ein lehrreicher Ausflug mit interessanten Gesprächen. Ein paar Einblicke:

Das ARD-Hauptstadtstudio liegt in Sichtweite zum Reichstag. Es gibt für jede Partei im Bundestag ein Ressort mit Journalistinnen und Journalisten, die sich nur mit dieser auseinandersetzen – und zusätzlich für jedes Ministerium. Markus Preiß erzählte uns, wie er sich auf Interview mit Spitzenpolitiker:innen vorbereitet. Wir diskutierten über Interviewstrategien – alle Anwesenden sind ja ausgebildete Journalist:innen oder Journalistikwissenschaftler -, über Veränderungen in der Berichterstattung und inwieweit die ARD-Journalisten mit ihrer Themensetzung politische Strömungen verstärken, zum Beispiel im Kontext Migration.

Mit dabei war auch Nora Schultz vom Deutschen Ethirkrat. Sie stellte uns ihre Arbeit und die des Ethikrates vor. Der Ethikrat wird von der Politik zu Stellungnahmen angefragt, setzt sich aber auch selbst Themen. Das jüngste Thema „Klimagerechtigkeit“ hat der Rat sich selbst gegriffen. Der Anstoß kamauf einer Veranstaltung mit Schülern und Schülerinnen, bei der es eigentlich um die Erfahrungen der Jugendlichen in der Corona-Zeit ging. Am Nachmittag fand das Format „Schüler beraten den Ethikrat“ statt; dort kam das Thema mehrmals zur Sprache, so dass der Ethikrat es aufgriff. Sehr verkürzt sagt die Stellungnahme übrigens: Die Politik möge weniger moralisierende Kommunikation an Einzelne richten, sondern – statt die Verantwortung aufs Individuum zu schieben – selbst stärker ins Handeln kommen und den regulatorischen Rahmen setzen.

Nora Schutz stellt den Ethikrat vor

Den Abend verbrachten wir mit geistigen Getränken und intellektuellen Diskursen, vielleicht aber auch nur mit Gossip aus der Journalismusblase. Suchen Sie sich etwas aus.

Am nächsten Tag marschierten wir zunächst zum Bundespresseamt. Dort sprachen wir vor allem über Social Media. Die Profile der Bundesregierung und des Bundeskanzlers auf Facebook, Instagram, Tiktok, X und Mastodon haben pro Tag mehrere tausend Interaktionen. Die allermeisten sind jedoch Pöbeleien, Trolle und möglicherweise auch Bots; die Profile sind quasi eine 24/7-Montagsdemo. Jeden Monat gehen dutzende Anzeigen ans Sicherheitsreferat. Die Menschen, die die Profile betreuen, tun dies nur stundenweise, damit es nicht zu destruktiv wird. Wir diskutierten, ob es demokratietheoretisch nicht angebrachter sei, gar keine Kommentare zuzulassen. Das Social-Media-Team hält währenddessen die Moral aufrecht, indem es sich immer wieder sagt, dass die meisten Menschen nur passiv mitlesen – und für sie moderieren sie tapfer.

Unsere nächste Station war bei der Deutschen Umwelthilfe. Das sind die, die an der Aufdeckung des Dieselskandals beteiligt waren und in dieser Sache immer noch Klagen führen. Die DUH hat außerdem Becherpfand in Fußballstadien eingeführt und das Recht von Mieterinnen und Mietern erwirkt, Balkonkraftwerke anbringen zu dürfen. Matthias Walter berichtete über die Arbeit – und gab Einblicke, wie Landesregierungen und Konzerne versuchen, Gesetzgebung zu umgehen. Interessant war die Info, dass die A/fD auf kommunaler Ebene stark versucht, Naturschutzprojekte und Zweckverbände unter dem Motto der Traditionspflege zu unterwandern.

Das Gebäude der Umwelthilfe am Hackeschen Markt hat übrigens ein wunderschönes Treppenhaus.

Vom Hackeschen Markt gingen wir zu Deutschen Welle, ein schöner, etwas mehr als halbstündiger Marsch vorbei an der Gedenkstätte Berliner Mauer zum Brunnenviertel.

Die Arbeit der Deutschen Welle und ihrer Akademie war mir bislang gar nicht so präsent, muss ich ehrlicherweise zugeben. Ich höre ab und an das Radioprogramm oder stoße auf einen Podcast. In Hotelzimmern im Ausland habe ich das Fernsehprogramm geschaut. Aber sonst hatte ich wenig Berührungspunkte. Umso interessanter war das, was ich erfuhr. Die DW-Akademie betreut Projekte in mehr als 70 Ländern, die das Recht auf freie Meinungsäußerung fördern und helfen, sich aus Basis von Fakten unabhängig zu informieren. Sehr erfolgreich ist das Projekt Mapped out, das politische Konflikte anhand von Karten erklärt. Ich habe die deutsche Seite verlinkt; die Videos gibt es auch auf Englisch, Spanisch und Arabisch. Auf Spanisch erreichen sie in Südamerika mehr als eine Million Abrufe pro Episode. Das liege auch daran, dass sich Russia Today, ein vom russischen Staat gegründetes Auslandsfernsehen, sehr bemühe, sich als Informationssender in Südamerika und auf dem afrikanischen Kontingent zu etablieren. Die Deutsche Welle setzt hier einen Kontrapunkt.

Stark nachgefragt seien außerdem Themen für Minderheiten, die die Leute nicht auf ihrem lokalen News-Markt bekämen – zum Beispiel Reportagen und Berichte zu LGBTQ oder Frauenrechten. Gerade in Afrika würden die queeren Themen der Deutschen Welle stark abgerufen.

Ein anderes Format der Deutschen Welle ist Shabab Talk, ein Gesprächsformat mit dem deutschen Journalisten Jaafar Abdul Karim. Es thematisiert gesellschaftspolitische Themen auf Arabisch und richtet sich an junge Menschen aus dem arabischen Kulturkreis. Hier mal eine Zusammenfassung auf Deutsch.

Ein weiteres Projekt DW-Akademie nennt sich „Sikika“, was auf Kisuaheli so viel heißt wie „gehört werden“. Es ist ein Audioprojekt im Kakuma Refugee Camp, einem Flüchtlingslager im Norden Kenias. In Kakuma und der benachbarten Siedlung Kalobeyei leben mehr als 280.000 Geflüchtete, viele aus dem Sudan. Die Deutsche Welle hat Männer und Frauen, die im Lager leben, ausgebildet, journalistisch zu arbeiten, verlässlich über Vorgänge im Camp zu berichten, Reportagen zu verfassen und Geschichten zu erzählen. Es geht oft um grundlegende menschliche Bedürfnisse wie Gesundheit, Nahrung, Wasser und Bildung, aber um Sport, Kultur und der Verständigung zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen. Alle zwei Wochen entsteht ein einstündiges Programm für die Geflüchteten im Camp. Ziel ist es, Kommunikationshierarchien aufzubrechen und die Geflüchteten zu befähigen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Außerdem werden Frauenrechte gestärkt, denn es gibt auch viele Reporterinnen.

Das war mein Ausflug nach Berlin. Ich kam geistig satt zurück.


Stadtklima | Ich berichtete von den sechs gesunden Kastanien, die hier in der Stadt gefällt werden sollten. Eine Online-Petition hat innerhalb weniger Tage mehr als 4.000 Unterschriften erreicht, Bürgerinnen und Bürger demonstrierten an den Bäumen, es wurden Kastanien mit eingeritzten Herzen verteilt, der WDR berichtete (ab Minute 14), die lokalen Fraktionen positionierten sich, der Bau- und Digitalisierungausschuss tagte in einem Saal voller Publikum und beauftragte schließlich die Verwaltung, eine neue Planung zu erarbeiten. Eine tolle Sache, großes Engagement hier in der Stadt, gelebte Demokratie.


Oldie but Goldie | Das Video, ein knackiger Viereinhalbminüter, ist mir dieser Tage wieder untergekommen. Wer seine Organisation wiedererkennt, hebe die Hand in den Kommentaren.


Stillstand | A propos Stillstand: Zwei Begebenheiten noch aus der Erlebniswelt Infrastruktur. Nachdem ich den Zwei-Striche-Coronaclub am Dienstag verlassen hatte, fuhr ich zum Kunden nach Duisburg. Es ist eine Strecke von 69 Kilometern, hauptsächlich Autobahn. Man könnte also in weniger als einer Stunde dort sein. Auf dem Hinweg benötigte ich eineinhalb Stunden, auf dem Rückweg zwei – dank Brückenbaustellen, Nicht-Brücken-Baustellen und temporärer Sperrungen.

Einen Tag später sitze ich im Zug nach Berlin – oder auch nicht. Stellwerksstörung in Wattenscheid, Reparatur an einem Signal, dies und das – mein Zug kommt jedenfalls nicht. Die ICEs kommen allesamt gar nicht, sie werden umgeleitet, der Regionalverkehr verspätet.

Anzeige am Bahnhof: Berlin Ostbahnhof - Die Fahrt fällt aus

Mit hunderten anderen Menschen, die nach Berlin und Hamburg wollen, stehe ich in Bochum am Gleis. Wir schlagen uns mit einem RE nach Dortmund durch. Es ist Donnerstagmorgen, Berufsverkehr und eine gesellige Angelegenheit. In Dortmund warten wir auf den Fernverkehr, irgendeinen. Er kommt auch, aber kurzfristig nicht auf Gleis Acht, sondern auf Gleis Zwanzig. Man rennt, man hastet. Die Rolltreppe zu Gleis Zwanzig fährt nur bergab, nicht hinauf. Alte Menschen mit großen Koffern stehen ratlos davor. Man hilft sich, man arrangiert sich. Der ICE fährt zwischen Ankündigung und Ankunft nochmal zehn Minuten Verspätung ein. Das ist erstaunlich, aber auch gut, so schaffen es alle hinauf zum Gleis und können mit. Ankunft in Berlin mit 55 Minuten Verspätung, fünf Minuten unter der Entschädigungsschwelle. Das ist immer tragisch.

Der Rückweg verlief ohne Zwischenfälle. Das muss auch erwähnt werden und wird natürlich in weniger Worten gekleidet als das, was nicht klappt. Stellen Sie sich einen ruhigen Sitz in einem halbvollen Waggon vor, ich lese, arbeite ein bisschen, höre Musik und nicke kurz ein. Der Umstieg in Bochum pünktlich, die Ankunft in Haltern mit den letzten Sonnenstrahlen.


Gehört | Während ich mich in Verkehrsmitteln befand, hörte ich das Interview von Tilo Jung mit dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Sie sprechen über Ilkos Jugend und Leben in der DDR, die Wendezeit, das Verständnis von Demokratie und Freiheit, Ursachen für Frust und Unmut im heutigen Ostdeutschland und seine Sicht auf die AfD und das BSW. Interessant.

Gelesen | Eine Rezension des Films „Die Akte Joel“. Der jüdische Großvater des Sängers Billy Joel besaß eine Firma, die 1938 arisiert wurde. Der Käufer: Josef Neckermann.

Gelesen | Ein Ort, den es nicht geben dürfte. Eine Spiegel-Recherche über Deutschlands größte Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Tegel, in der 5.000 Menschen unter unwürdigen Bedingungen leben. Auch auf Englisch.


Schweine | Sonntagmorgen nach einer wilden Nacht. Das Pionierschwein mit klarer Körpersprache an der Futterschale, der Dicke ein Fell gewordener Vorwurf: Schon halb Zehn und noch kein Frühstück. Inakzeptabel.

Kommentare

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  1. Kuchenschwarte sagt:

    Herzlichen Dank fürs ausführliche erzählen – so spannend! Jetzt wüsste ich gerne, was gute Interviewtechniken sind und wie man auf spannende Fragen kommt…

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