Draußen nur Kännchen Kaffeehaus mit ♥

Donnerstag, 11. Juli

12. 7. 2019 10 Kommentare Aus der Kategorie »Tagebuchbloggen«

Verknautschung | Letztens habe ich festgestellt, dass ich auf Fotos zunehmend älter aussehe.

Früher, zu Zeiten der Analog-Fotografie, als man nur alle Jubeljahre Bilder machte, haben Menschen den eigenen optischen Verfall wahrscheinlich nicht mitgekriegt; da kam lediglich irgendwann der Tag, an dem man plötzlich alt war – nach dem 80sten Geburtstag von Onkel Erich, auf dem die Familie nach langer Zeit mal wieder Fotos knipste, die sie Monate später, nachdem der Film voll war, entwickelt hat. Auf diese Fotos schaute man dann, nachdem man sich jahrelang nicht durch die Augen Dritter gesehen hatte, und dachte: „Himmelherrgott, was ist mit mir passiert?“

Ich werde irgendwie knautschig und knittrig, genauer kann ich das nicht beschreiben.

Letztens saß ich dabei, als zwei mir bekannte Frauen sich übers Liften unterhielten. Sie griffen sich an den Kiefer, schoben die Haut ihrer Wangen hoch und sagten: Hier, genau hier, müsse dringend etwas gemacht werden. Mir war bis anhin nicht aufgefallen, dass dort Bedarf besteht, ich sah mir die Wangen genau an und entdeckte nichts. Aber wenn sie es sagen, wird es wohl stimmen.

Bei mir müsste man Einiges tun: sowohl Einiges anheben als auch Einiges absaugen. Wenn es abgesaugt wäre, müsste man das Verbleibende zusammenraffen, und weil Gerafftes Falten wirft, müsste man danach mit einem Glätteisen drübergehen. Nachdem man mit dem Glätteisen drüber war, müsste man ein Serum hineinspritzen, damit es nicht sofort wieder knittert – und wer weiß, was danach nötig wäre. Eins zöge das andere nach sich, das wäre ein Fass ohne Boden. Ich habe schonmal eine 40 Jahre alte Wohnung saniert – da offenbarte jeder Handgriff weitere Handgriffe: Unter der Tapete war nochmal eine Tapete und nochmal eine Tapete und als die Tapete schließlich weg war, fiel der Putz ab. Am Ende war die ganze Bude entkernt; Heimwerker kennen das. So stelle ich mir das mit dem Liften vor. Also lasse ich das lieber, denn ich bezweifle, dass ich abgesaugt, angehoben, gerafft, geglättet und gespritzt glücklicher bin. Glück ist ja eher eine Sache des Innendrinn als des Außenrum; das steckt im Fundament, nicht in der Tapete.

Ich bin trotz fortschreitenden äußeren Verfalls weiterhin neugierig, werde sogar immer neugieriger. Je mehr ich sehe und lerne, desto mehr weiß ich, was ich nicht weiß. Ständig höre ich irgendwo etwas, lese mich dann ein, fahre irgendwo hin, jemand erzählt mir Sachen, und ich denke: Spannend, darüber musst du mehr erfahren. Gleichzeitig finde ich es wundervoll, schon das ein oder andere erlebt zu haben. Das lässt mich mit Gelassenheit auf Ereignisse blicken. Es ist sehr erfreulich, Dinge souverän einordnen zu können. Die schwankenden Aufregungskurven meiner 20er- und 30er-Jahre, diese grotesken Ausschläge auf der inneren Dramatikskala fehlen mir überhaupt nicht. „Ach ja, das hatten wir schonmal“, denke ich jetzt, ducke mich, lasse den Sturm über mich hinwegziehen, und schon ist wieder Sonnenschein.

Auch Menschen finde ich zunehmend spannend, fand ich immer schon spannend; aber jetzt, wo ich mehr und mehr in mir ruhe, kann ich viel besser Leute aushalten, die mich früher in Rage brachten. Das ermöglicht ganz neue Austausche.

Während also das Außen zunehmend verknautscht, wird das Innere immer aufgeräumter. Das gefällt mir; lieber so als umgekehrt.

***

Broterwerb | Den Tag verbrachte ich im Home Office. Die Fahrt zum Kunden ersparte ich mir: Dort waren am heutigen Tage viele Ansprechpartner nicht da – was zu tun war, erledigte ich von daheim, per Telefon und Chat und GoTo-Meeting. Die moderne Technik macht ja vieles möglich. Das finde ich immer noch großartig.

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Gelesen | Wenn Jawls Frau verreist, wird sie gefragt, ob sie für ihn vorkocht. Im Jahr 2019. Das ist skurril.

Gelesen | Frau Novemberregen berichtet, wie sie Abteilungen in fernen Ländern steuert, indem sie immer die gleiche Tabelle weiterleitet.

Schauen Sie übrigens auch mal bei Frau Joriste vorbei. Sie tagebuchbloggt seit einiger Zeit ebenfalls.

Kommentare

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  1. Sewwi sagt:

    „Während also das Außen zunehmend verknautscht, wird das Innere immer aufgeräumter. “
    Genauso ist es richtig, so muss es sein!
    Danke für die so treffende Zusammenfassung!
    Auch wenn man schon manchmal mit dem Außen ein bisschen hadern mag – der Vergleich mit der alten Wohnung lässte einem dann doch gleich wieder darüber lachen!

  2. lihabiboun sagt:

    Was für ein wunderbarer Post! Was für wunderbare Gedanken!!! Und Dank auch für die interessanten links. Der feministische rant spricht mir sowas von aus dem Herzen …. Im übrigen muss ich es jetzt mal aussprechen: Ihr Blog ist klasse.

    1. Vanessa sagt:

      Dankeschön.
      Das freut mich sehr!

  3. wrtlbrmft sagt:

    Zum Thema „Verknautschung“ siehe auch: https://www.youtube.com/watch?v=chCSk3sTWE0

  4. Joriste sagt:

    hach, eben erst gesehen und kaum der Rede wert, ich übe ja noch eher so ein bisschen vor mich hin. Vielen Dank :)

  5. Yvonne Winkler sagt:

    Schön. Das macht so Lust älter zu werden. In 3 Tagen bin ich 31 und freue mich drauf. Die innere Ordnung klingt schön.

  6. jpr sagt:

    Auch von hier: ganz viel #kleinerdrei fuer diese wunderbare Zusammenfasung des Alterns und der sich daraus ergebenden Vorteile.

  7. […] bin, gleich auch den wunderschönen Fensterrahmen und die Kassettentür. Man sieht sonst so den Übergang, verstehen Sie? Ich möchte allerdings anmerken, dass man den Übergang geschickt verblenden […]

  8. […] unfassbar gute Beschreibung des Älter werdens. Mit zwei fundamentalen […]

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