Wien – an was denkt man, wenn man „Wien“ hört?
An Sachertorte, ganz sicher. An Kaffeehäuser. Ans Walzertanzen. Vielleicht an Sissi. An die Türken, die vor den Toren standen. An den Wiener Schmäh. All das hatte ich im Kopf, als ich hinflog – aber nur wenig mehr, denn ich war bis anhin noch nie in Wien.
Der kleine Reiseführer, ein backenbärtiger, älterer Herr, der sich von Kaiser Franz Joseph nur dadurch unterschied, dass er eine Brille trug, über die er verschmitzt hinwegschaute, stand irgendwann weinend auf dem Heldenplatz. Wir hatten uns dort versammelt, damit er uns die Geschichte der Stadt erzählt. Von den Habsurgern erzählte er – und vom Dritten Reich: „Dort oben hat er gestanden, der Führer, und hat den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich erklärt.“ Er sagte tatsächlich „Führer“, nannte niemals seinen Namen. Schwarz vor Menschen sei er gewesen, der Heldenplatz. Dabei seien die Wiener keine Nazis gewesen. „Die waren bloß neugierig“, sagt er. „So ist der Wiener halt: neugierig.“ Ich frage mich, ob das die jüdische Bevölkerung seinerzeit auch so empfand.
Später, im Jahr 1955, sei er Zeitzeuge gewesen; als die alliierten Besatzungsmächte abzogen, habe er dort vorne – er deutet auf eine Laterne – gestanden und habe Scherze gemacht, denn er habe nicht verstanden, was vor sich gehe. „‚Weißt du eigentlich'“, erzählte er von einem Mann, der hinter ihm gestanden und ihn angesprochen hatte, „weißt du, was gerade hier passiert? Wir werden heute frei.‘ Und wissen Sie was?“, fährt er fort. „Ich konnte nichts mit dem Begriff ‚Freiheit‘ anfangen.“ Er sei doch frei gewesen, habe sich frei bewegen können, sei freundlich zu den Soldaten gewesen und habe im Gegenzug von ihnen Kaugummis bekommen. Auf dem Dach der Hofburg, erzählt er weiter, hätten seinerzeit die Flaggen der Besatzungsmächte geweht; die österreichische habe neben ihnen gehangen – als eine von vielen. Aber als die alliierten Soldaten an jenem Tag im Jahr 1955 nach rechts den Heldenplatz verließen und von links das österreichische Bundesheer gekommen sei, als man die alliierten Flaggen eingeholt habe und danach nur eine einzige, die österreichische, aufgezogen habe, die dann stolz auf dem Gebäude wehte – seine Augen wurden rot und füllen sich mit Tränen -, da, ja, da habe er begriffen, was Freiheit sei.
Ich habe mir noch andere Orte in Wien als die Hofburg mit dem Heldenplatz angeschaut. Sämtliche touristisch wertvollen Gebäude habe ich abgeklappert, meine Zu-Fuß-Geh-App hat rund 35 Kilometer aufgezeichnet. Ich möchte Sie aber nicht mit den üblichen Attraktionen belästigen. Stellvertretend hier ein Bild vom Schloss Belvedere. Da taten mir schon die Füße weh und ich brauchte dringend eine Melange.
Neben den vielen Sehenswürdigkeiten, die sich manchmal ankündigen, manchmal unverhofft hinter der nächsten Ecke überraschen, immer aber sehr beeindruckend sind – ein Glück, dass Wien kaum bombardiert wurde -, sind es viele kleine Dinge, die mich erfreuten. Stellvertretend:
Praktisch erschienen die Weihnachtsbaumsammelstellen („Kein Lametta wäre netter.“), die auch vor hohem Kulturgut keine Scheu zeigen. Hier in Dortmund muss man den Baum an einem bestimmten Datum rausstellen – nicht früher, nicht später – und wer den Baum noch behalten oder ihn früher abgeben möchte, hat Pech gehabt.
Kommen wir zu kulinarischen Aspekten der Reise. Ich möchte die Wiener Sehenswürdigkeiten nicht schmälern, aber wenn Sie, sagen wir, nur drei Stunden Zeit haben, um Wien zu entdecken: Schenken Sie sich die Hofreitschule – essen Sie! Die Kalorien, die ich beim Sightseeing verlaufen habe, habe ich nicht in Wien zurückgelassen – ich habe sie allesamt wieder mitgebracht (und wahrscheinlich noch mehr).
Sollte es bei mir beruflich einmal nicht mehr gut laufen, habe ich am vergangenen Wochenende eine neue Perspektive für mich entdeckt: als Apfelstrudel-Testerin. Test-Kriterien: „Vanillesoße“, „Teig“, „Apfelwürze“ und „begleitender Kaffee“. Ich habe in vier Tagen vier Apfelstrudel gegessen – und wäre auch zu mehr bereit gewesen, wenn ich nicht auch noch Wiener Schnitzel hätte essen wollen (und müssen, denn hey! Wien!). Vorläufiger Strudelfavorit ist:
Im Café Landtmann habe ich den besten Apfelstrudel meines Lebens gegessen, ein orgiastisches Fest, ein fast erotisches Erlebnis, eine musische Komposition – Sie werden alle Apfelstrudel vergessen, die Sie vorher jemals verzehrt haben, es wird eine Strudelamnesie einsetzen, sie werden nur noch an diesen einen Strudel denken können, und selbst, wenn Sie wieder zu Hause sind und wenn sie nur über diesen Strudel schreiben, wird es Sie wieder packen und Ihre Gedanken werden besessen sein.
Um wieder runterzukommen, folgt ein Bild von einem zusammengerollten Farnblatt:
So. Und morgen gibt’s erstmal ’ne Waffel. Übersprungshandlung.
Kommentare
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Wäscheflott muss ich mir merken. Zu schön.
Nein, nein, von den Wienern ist niemand ein Nazi gewesen… Grundgütiger!…
Sind Sie denn auch in der Spanischen Hofreitschule gewesen? Seit meinen Kindertagen träume ich davon, mir einmal die wunderschönen weißen Lippizaner anzusehen… Apfelstrudel im Café Landtmann – das muss ich mir unbedingt vormerken – falls ich mal nach Wien kommen sollte…
In der Hofreitschule selbst war ich nicht, bin nur vorbeigegangen. Ich hab’s nicht so mit Pferden. Ich war dafür im Sisi-Museum und fand es sehr gut. Nicht aus Kitsch-Aspekten, sondern weil es so nah an der wirklichen Sisi war und sich nicht von der Film-Sissi hat beeinflussen lassen.
Wir haben in Meran den Original-Sissi-Bademantel gesehen! Hooray!
Der Garten da im Schloss ist auch einen Besuch wert.
Viele Grüße,
der Ponder
Ich habe die Turnringe gesehen, die Frau Sisi in den goldvertäfelten Türsturz ihres Schönheitszimmer hat rammen lassen. Arme Frau.
Hihiiiii.Dort leben, wo der Kuchen wächst, was für ein Glück.
Es muss schön gewesen sein und Sie sehen glücklich aus.
Ja, es war sehr schön. Ich war mit Sicherheit auch nicht das letzte Mal in Wien.
Ich kann mir nicht helfen. Der Reisefuehrer, zusammen mit dem Lob des Strudels bringt mir Christopher Waltz vor Augen. Ihre Begleitung war hoffentlich netter. Und der Spruch fuer die Baeume – sagen wir es so: in Berlin wuerde die gesprochene Endung des netter reimen.
Der Reiseführer war auch sehr nett – oder meinten Sie: „netter als Christoph Waltz“? Den Herrn kenne ich ja nur aus der Ferne.
In voller Korrektheit meinte ich wohl: netter als die Figur, die Herr Waltz spielt. Wie nett er selber ist, weiss ich nicht zu sagen.
Ach so. Ich verfolge die Aktivitäten von Herrn Waltz nicht so. Das liegt wohl daran, dass ich ganz allgemein schauspielerische Aktivitäten wenig verfolge. Ich gehe vielleicht zweimal im Jahr ins Kino und gucke im Fernsehen vor allem die Lindenstraße.
Wie immer – ein echter Serviceblog hier: Bin Ende März in Wien und weiß jetzt, was ich mir an meinem Geburtstag dort „gönnen“ werde (pst, Apfelstrudel im Landtmann, ich werde an Sie denken).
Ein gutes Geschenk. Sie sollten aber, damit Sie am Tag des großen Ereignisses auch wirklich den für Sie besten Apfelstrudel auf dem Teller haben, vorab eine Testreihe starten, allein wegen der Sicherheit.
Guter Tipp – mein Geburtstag ist erst am Ende der Urlaubswoche-genug Zeit zum Herantesten (hmmh!)
Neben Apfelstrudel kann ich auch noch Mohr im Hemd und Topfenpalatschinken sehr empfehlen! Ich war im Dezember das erste Mal in Wien und habe mich ein bisschen in die Stadt verliebt. Besonders den Naschmarkt fand ich super, auch wenn man vor dem Kauf ein bisschen Preise vergleichen sollte (in der Nähe der Haltestellen etwas teurer)…
Topfenpalatschinken, omnjommnjomm. Diesem Gericht werde ich meine nächste Reise nach Wien widmen.
Danke, lenelein, und ja, Frau Nessy, das nächste Mal unbedingt Naschmarkt! Ganz wichtig, eine echte Sensation, ich liebe den Naschmarkt!
Was zu den Österreichern gesamthaft zu sagen ist, zum Thema Vergangenheitsbewältigung, ist, dass wir da immer noch nicht sehr weit sind. Die Älteren finden immer noch ziemlich viele Entschuldigungen zur Rechtfertigung, die Mittelälteren in meiner Generation sind etwas(!) sehenderen Auges, die Jüngeren können damit garnix mehr anfangen, wissen nur wenig darüber und manche schließen sich diesen furchtbaren Gruppierungen an und beschmieren beispielsweise die goldenen Stolpersteine, die Salzburg auf die Gehsteige vor den Häusern installiert haben, in denen Juden gelebt haben, die im 2. Weltkrieg umgebracht wurden.
Auf dem Naschmarkt war ich – ich habe es nur nicht erwähnt. Unglaublich, was alles verkauft wird und in welcher Fülle! Wunderbar. Ich habe mir Brot und einen ganz tollen Bergkäse genehmigt.
Hier in Deutschland wurde ja aufgearbeitet, bis es allen (insbesondere meiner Generation, der zweiten bis dritten nach dem Krieg) zu den Ohren herauskam. Deshalb fallen mir solche Sätze wahrscheinlich besonders auf.
Von den Stolpersteinen bin ich übrigens großer Fan. Es ist eine unaufdringliche, aber gleichzeitig nachdrückliche Art des Erinnerns, wenn man sie an dem Ort entdeckt, an dem das Verbrechen geschah.
oder wenn man sie in der Nebenstraße entdeckt.
= Hier, gleich nebenan ist es passiert.
Auschwitz und so, das ist weit weg.
Ja.
Und so viele.
Und niemanden hat es wirklich geschert.
Bevor ich zum ersten Mal Wien besucht habe, schrieb ich mir eine Liste. Und zwar nicht mit Sehenswürdigkeiten, sondern mit allem, was ich dort essen will. Die Liste war lang, Strudel und Palatschinken genauso drauf wie Schnitzel und Gulasch und ich habe mich fast komplett durchgegessen! Wien ist eine Schlemmerreise wert – ich glaub, ich muss mal wieder hin! LG Cloud.
Zusätzlich muss man natürlich die ganzen wunderbaren Dinge essen, die man erst vor Ort entdeckt und deren Existenz man zuvor gar nicht mal erahnt hat.
Und hier noch die nicht zu unterschätzenden kulinarischen Geheimtips von Einheimischen:
http://derstandard.at/1385172370952/Womoeglich-Wiens-bester-Burek
Bestimmt auch interessant. Der Internetauftritt vom „Standard“ ist übrigens auch eine Art Geheimtip (inkl. der oft typisch wianärischen Kommentare).
Burek steht dann fürs nächste Mal auf dem Mal. Man kann ja auch nicht immer nur Österreichisch essen.
Ja, das mit den Schnitzeln ist schon übel. Aber was will man in Wien machen? Gibts demnächst noch dem Empfehlung des besten Schnitzels?
Mein bestes Wiener Schnitzel habe ich bisher in Österreich gegessen – aber nicht in Wien, sondern auf einer MTB-Tour in der Erzherzog-Johann-Klause in den Bergen. Donnerwetter, was für ein Schnitzel. Ich glaube zusammen mit dem Bergpanorama schlägt das jedes Schnitzel in Wien direkt :)
Viele Grüße,
derPonder
Nicht, dass ich die Köstlichkeit Ihres Schnitzels schmälern möchte – aber schmeckt nach so einer Mountainbike-Tour nicht jedes
BierSchnitzel?Das … mag sein :)
Wobei das Schnitzel wirklich, wirklich ausgezeichnet war – das Bergpanorama mag aber dazu beigetragen haben, und die vielen Höhenmeter vorher durchaus auch.
Schnitzelige Grüße,
der Ponder
Liebe Nessy,
zur ausführlichen und ans Herz gehenden Lektüre über Wien und auch andere Städte (aber eben insbesondere Wien), empfehle ich Dir wärmstens das Buch von Edmund de Waal “ Der Hase mit den Bernsteinaugen“. Ich weine nicht oft wenn ich ein Buch lese…hier musste ich öfters zum Tuch greifen. Bitte lies es und berichte darüber. Ich bin heute, ein halbes Jahr nach dem Lesen, immer noch ergriffen.
Ansonsten mach weiter, wir brauchen Dich!
Viele Grüße
Katjuscha
Habe ich direkt auf meine Wunschliste gesetzt!
Also, liebe Nessy, falls Sie mal leckeren südniedersächsischen Wiener Apfelstrudel essen wollen, sind Sie herzlich eingeladen (ich ertränke ihn allerdings gerne in selbstgekochter Vanillesoße).
Viele Grüße,
Mona
Ich denke, dass ich dieses Angebot in meine Versuchsreihe aufnehmen sollte.
Das Landtmann war vor 30 Jahren schon grossartig. Ich war damals 16.
Tip: wenn du wieder mal einen städtetrip machst schau dir die stadt mal vom fahrrad aus an. es gibt geführte fahrradrouten durch dir stadt. man sieht noch mehr und kommt schneller voran.
Jaaaa, Wien ist immer eine Reise wert =). Ich war Dezember 2012 dort, um u. a. alle Weihnachtsmärkte zu besuchen, waren „nur“ acht. Besuchten Sie auch das Café Sacher?
Der ältere Herr Reiseführer hört sich irgendwie an wie der Herr Karl.
http://youtu.be/XDeyLjVKA20?t=20m15s